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Vorbereitungen zur Geiselnahme unbemerkt -
Debakel des Geheimdiensts

Für die US-Sicherheitsbehörden war es der 11. September 2001, für den russischen Geheimdienst ist es der 23. Oktober 2002: Beide Daten stehen für das Versagen der Sicherheitsdienste, Angriffe bisher ungekannten Ausmaßes vorherzusehen und zu vereiteln. In den USA missachteten FBI und CIA mit fast schon unheimlicher Konsequenz alle Warnungen vor den verheerenden Terroranschlägen, in Russland konnten tschetschenische Rebellen offenbar wochenlang eine Geiselnahme in der Hauptstadt vorbereiten, völlig ungehindert vom dichtmaschigen Sicherheitsnetz des Inlandsgeheimdienstes FSB. Zwei Tage nach Beginn des Geiseldramas in einem Moskauer Musiktheater wunderten sich die Zeitungen, mit welcher Leichtigkeit es dem tschetschenischen Kommando gelang, FSB und Polizei auszutricksen.

Die Vorbereitungen für die Geiselnahme von Hunderten von Menschen dauerten nach Angaben der Rebellen zwei Monate. So lange brauchten die Terroristen, um zwei Tonnen Sprengstoff in die russische Hauptstadt zu schmuggeln - buchstäblich unter den Augen des FSB, des Hauptnachfolgers des KGB. Unbehelligt fuhren sie mit Sprengstoff und Waffen beladen in mehreren Autos zu dem Theater, stürmten es mitten in einer Musical-Aufführung und erklärten alle Zuschauer, Darsteller und Bühnenmitarbeiter zu Geiseln - Ausländer und Kinder eingeschlossen. Aus einem vom katarischen Fernsehsender El Dschasira übertragenen Video geht hervor, dass zumindest ein Teil der rund 50 Geiselnehmer für einige Zeit unbemerkt in Moskau lebte, um die Aktion vorzubereiten.

Für den FSB - dessen Chef von 1998 bis 1999 Präsident Wladimir Putin war - war das eine schwere Niederlage. Seit einer Serie von blutigen Bombenanschlägen in Russland vor drei Jahren, bei denen mehr als 300 Menschen starben, hatten die Sicherheitsbehörden die Kontrollmaßnahmen konstant verschärft: Alle Ausfallstraßen sowie die Straßen im Zentrum Moskaus stehen unter ständiger Überwachung; überall patrouillieren Polizisten und prüfen die Ausweise.

Angehalten werden vor allem Passanten, deren Aussehen auf eine Herkunft aus dem Kaukasus schließen lässt: Obwohl ein Großteil der Bombenanschläge bis heute nicht aufgeklärt ist, machen die Behörden tschetschenische Rebellen dafür verantwortlich.

Als eine Konsequenz der blutigen Anschläge marschierte die russische Armee unter der Ägide des FSB vor drei Jahren in Tschetschenien ein und löste den zweiten Krieg in der Kaukasusrepublik aus. Dieser ist inzwischen offiziell beendet. Der Widerstand der Rebellen ist nach russischen Angaben weitgehend gebrochen. Fast jeden Tag melden Armee und FSB den Tod von Rebellen oder deren Feldkommandeuren und feiern die Beschlagnahmung größerer Waffen- und Sprengstofflager. Bis auf kleinere Gruppen seien die Rebellengruppen weitgehend zerschlagen, heißt es. Doch einer der Anführer - Mowsar Barajew -, dessen Tod die Armee erst vor kurzem gemeldet hatte, taucht jetzt wieder als Anführer der Geiselnehmer auf und gibt sich entschlossen: Seine Gruppe fordert ein Ende des Krieges sowie den Abzug aller 80.000 russischen Soldaten aus ihrer Heimat.

Mit spektakulären Geiselnahmen hatten tschetschenische Rebellen immer wieder die russische Regierung gedemütigt, doch lagen ihre Ziele meistens im Kaukasus oder waren zumindest weit entfernt von Moskau. Dieses Mal aber war es den Separatisten gelungen, "den Krieg in das Herz von Moskau zu tragen, nur wenige Kilometer vom Kreml entfernt", wie die Tageszeitung "Wremja Nowosti" am zweiten Tag der Geiselnahme kommentierte. Den Geiselnehmern sei es "mit erstaunlicher Leichtigkeit " gelungen, das seit Jahren aufgebaute taktische und strategische Sicherheitsnetz zu durchtrennen. "Wie um alles in der Welt konnte dies gelingen?", fragte Arkadij Baskajew, der während des ersten Tschetschenienkriegs bis 1995 Militärkommandeur für die tschetschenische Hauptstadt Grosnij war, im Radiosender Moskauer Echo. Für "Wremja Nowosti" stand fest: "Wenn die Krise vorüber ist, werden beim Geheimdienst Köpfe rollen".

Françoise Michel, AFP

Quelle: N-TV, 25.10.2002

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