Originaltext
Sura 107
(© Mürsid 1.0, astec GmbH)
Übersetzung
Die Hilfeleistung (offenbart in Mekka)
Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen
1. Hast du den nicht gesehen, der die Religion lügenhaft nennt?
2. Das ist der, der die Waise verstößt
3. Und nicht zur Speisung des Armen antreibt.
4. So wehe denen, die Gebete sprechen.
5. Doch ihres Gebetes uneingedenk sind,
6. Die nur gesehen sein wollen
7. Und die kleinen Dienste nicht erweisen.
Diese Sura wurde nach einigen Oberlieferungen in Makka offenbart; andere Qur'an-Kommentatoren gehen davon aus, daß sie in Medina offenbart wurde, und eine dritte Gruppe vertritt die Ansicht, daß die ersten drei Verse in Makka und die restlichen in Medina offenbart worden seien, wir werden darauf an entsprechender Stelle noch zu sprechen kommen.
Im allgemeinen wird diese Sura »Die Unterstützung« genannt; andere Namen sind »Die Religion«, »Das Jüngste Gericht« und »Die Waise«.
Die Anrede im ersten Vers richtet sich einerseits an den Propheten Muhammad (a.s.s.), andererseits an alle Gläubigen. Sie werden von Allah (t) gefragt :
»Hast du den gesehen, der die Religion leugnet?« Und das bedeutet: Weißt du, wer derjenige ist, der die Religion leugnet und die unumschränkte Herrscherstellung Allahs abstreitet?
Dieser Vers kann nach anderen Qur'an-Kommentatoren aber auch so übersetzt werden:
»Hast du den gesehen, der das Jüngste Gericht leugnet?« Das arabische Wort din hat zwar die Grundbedeutung »Religion«, wird aber im Qur'an häufig auch im Sinne von »Jüngstes Gericht«, »Lohn und Strafe« und Auferstehung« verwendet.
Allah (t) stellt zu Beginn der Sura diese Frage, weil Er in den folgenden Versen die Eigenschaften des wahren Glaubens herausstellen will. Die nächsten Verse beschäftigen sich deshalb mit dem Tun, das einen aufrichtigen Gläubigen kennzeichnet, und zwar auf die Weise, daß das Unterlassen dieses Tuns als »Leugnen der Religion« bezeichnet wird. Denn der Islam ist keine Religion der bloßen Äußerungen von Worten oder der Ausübung religiöser Bräuche; vielmehr machen Aufrichtigkeit gegenüber Allah (t) und das ständige Bewußtsein, daß Allah (t) alle Taten sieht, sowie ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl - gegenüber sich selbst als auch gegenüber seinen Mitmenschen in allen Lebens- lagen - die echte Glaubensgrundlage eines wirklichen Muslims aus. Dieses Verständnis des Glaubens ist es, das die Herzen läutert und zu Allah (t) führt und ein angenehmes, gottgefälliges Leben sowie ein friedvolles Zusammensein aller Menschen ermöglicht.
Die erste Antwort, die Allah (t) auf die eingangs gestellte Frage gibt, lautet im Vers 2:
»Das ist der, der die Waise wegstößt.« Wir erfahren hier also, daß jemand, der eine Waise abweist und vertreibt bzw. hart und grob behandelt und ihr nicht ihr Recht zukommen läßt, das eigentliche Wesen des Islam, nämlich Hilfsbereitschaft und Gute gegenüber jedermann - Muslim oder Nichtmuslim, insbesondere aber gegenüber dem Bedürftigen - nicht verstanden hat und durch sein schlechtes Verhalten »die Religion verleugnet«. Wir erkennen also in diesem Vers, daß schöne Worte ohne Taten nichts nutzen. Entsprechend heißt es auch in der 61. Sura (As-Saff, Die Reihe), Vers 2:
O ihr, die ihr glaubt, warum sprecht ihr, was ihr nicht tut?«
Ein Muslim ist also aufgefordert, Gutes zu tun und gütig gegenüber seinen Mitmenschen zu sein.
Im nächsten Vers dieser Sura heißt es:
»und nicht zur Speisung des Armen anspornt«.
Hier wird eine weitere Gruppe von Menschen angesprochen, die »die Religion leugnen«. Es handelt sich um jene, die aus reinem Geiz sich weder durch Taten noch durch Worte für die Speisung bedürftiger Menschen einsetzen und weder sich selbst noch andere zur Ausübung dieser islamischen Vorschrift anhalten. Auch in dieser negativen Verhaltensweise kommt zum Ausdruck, daß sich jene nicht bewußt sind, daß sie für all ihr Tun in ihrem Leben am Jüngsten Tag zur Rechenschaft gezogen werden. Insofern leugnen sie also nicht nur die Religion, sondern auch das Jüngste Gericht.
In den nächsten beiden Versen wendet sich Allah (t) einer anderen Gruppe von Menschen zu:
Wehe den Betenden, die auf ihr Gebet nicht achten!< Angesprochen sind diejenigen, die zwar äußerlich beten, d. h. die Gebetsbewegungen vollziehen, innerlich aber das Gebet nicht verrichten, weil sie mit ihren Gedanken woanders sind, und diejenigen, die die vorgeschriebenen Gebetszeiten nicht einhalten oder die Gebetsbewegungen unvollständig bzw. nachlässig verrichten.
Einem Hadit zufolge, der von Al-Buhari und Muslim überliefert wird, sagte der Prophet Muhammad (a.s.s.):
»Das ist das Gebet des Heuchlers, das ist das Gebet des Heuchlers, das ist das Gebet des Heuchlers; er sitzt und betrachtet die Sonne, bis sie zwischen den Hörnern des Teufels steht; dann steht er auf und führt vier Rak'as aus und gedenkt Allahs (t) nur äußerst wenig.« Gemeint ist in diesem Hadit das Nachmittagsgebet, und als Heuchler wird also derjenige bezeichnet, der die Verrichtung dieses Gebets ab-sichtlich so lange hinauszögert, bis die Sonne kurz vor ihrem Untergang steht. In diesem Zeit-abschnitt ist das Verrichten von Gebeten verwerflich und soll vermieden werden; es ist die »Zeit des Teufels« . Wer zu diesem Zeitpunkt sein Gebet in Eile verrichtet, obwohl er vorher zum Beten Gelegenheit hatte, kann sich nicht ordnungsgemäß auf das Gebet konzentrieren und Allahs (t) nicht ausreichend gedenken. Allah (t) droht denjenigen, die achtlos und nachlässig in der Gebetsverrichtung sind, schwere Strafe an:
»Wehe den Betenden, die auf ihr Gebet nicht achten! « Das Wort wail bedeutet »Wehe! «, »Unheil«, »Untergang«, aber auch »Strafe«, »Schande« Oder ewige Verdammnis. Einige Kommentatoren verstehen unter wail auch ein Tal der Hölle.
Im nächsten Vers heißt es:
die (nur) gesehen werden wollen«.
Dieser Vers knüpft an die beiden vorangegangenen Verse an, d. h., Allah (t) verkündet auch denen Bestrafung, die nur deshalb handeln, da-mit es die Leute sehen und um bei ihnen einen guten Ruf zu erlangen. Solche Menschen verrichten z. B. das Gebet nur, damit die anderen von ihnen glauben, sie seien gute und fromme Muslime. In Wirklichkeit haben sie aber keine ehrliche innere Absicht gegenüber Allah (t). Sie vergessen dabei oder leugnen sogar, daß Allah (t) in ihre Herzen blicken kann und ihre wahre Ab-sichten kennt. Diese Menschen wollen also durch ihr Handeln nicht die Zufriedenheit Allahs (t) und Seine Gnade, sondern in erster Linie das Wohlwollen ihrer Mitmenschen erlangen. Dieses heuchlerische Denken ist dem Islam jedoch fremd. Der Muslim tut alles, um zunächst das Wohlgefallen Allahs (t) zu erreichen. Der Muslim ist sich ferner zu jeder Zeit bewußt, daß er für alles, was er in dieser Welt tut, beim Jüngsten Tag von Allah (t) zur Verantwortung gezogen wird.
Einige Qur'an-Kommentatoren, die die Meinung vertreten, die letzten vier Verse dieser Sura seien in Medina offenbart worden, begründen dies mit der in Vers 4 erwähnten Heuchelei im Gebet: In Makka wurden die Muslime von ihren heidnischen Mitbürgern unterdrückt, bedrängt und verfolgt. Es gab unter ihnen noch keine Heuchler wie später in Medina, denn ein Heuchler hätte in Makka keinen Vorteil durch seine Verstellung erlangt, sondern nur Schaden. Dagegen erhofften sich die Heuchler im Staat der Muslime in Medina durch ihre Verstellung materielle Vorteile von seiten der Muslime.
Gegen diese Meinung spricht, daß mit »den Betenden« nicht nur die Muslime gemeint sein können, sondern auch allgemein die Menschen oder die Götzendiener in ihrem heidnischen Gebet, deren Heuchelei beim Gottesdienst den Muslimen als negatives Beispiel dienen soll: Also können diese Verse ebenso wie die drei ersten dieser Sura in Makka offenbart worden sein.
Betrachten wir nun den letzten Vers dieser Sura. In ihm heißt es:
»und die Unterstützung verweigern«, d. h., »wehe denen, die die Unterstützung verweigern«. Hier wird ein weiterer Prüfstein des Glaubens angesprochen. Ein gläubiger Muslim ist verpflichtet, Gefälligkeiten zu erweisen, freundlich zu sein und nach seinen Möglichkeiten Almosen zu geben sowie die von Allah (t) erlassenen Vorschriften in bester Weise und nach bestem Können einzuhalten. Für das Wort mâun, » Unterstützung «, werden von den Qur'an - Kommentatoren viele Bedeutungen überliefert.
Einige verstehen darunter die Zakat, d. h. die vorgeschriebene Vermögensabgabe; andere sehen hier die Verpflichtung, Bedürftigen auf deren Anfrage Darlehen zu gewähren. Weitere Oberlieferungen sprechen vom Ausleihen täglicher Gebrauchsgegenstände oder der Unterstützung der Mitmenschen und der Hilfe unterein- ander schlechthin. Schließlich wird die Meinung vertreten, es handele sich um den Gehorsam im allgemeinen, der von einem Muslim gefordert wird.
In dieser Sura werden also Aufrichtigkeit und Gehorsam gegenüber Allah (t) und Unterstützung und Hilfsbereitschaft der Menschen unter- einander als Glaubensgrundlagen des Islam besonders hervorgehoben. Diese beiden Dinge sind es, die die Herzen läutern, einen edlen Charakter hervorbringen und ein Leben in Zufriedenheit und Sorglosigkeit ermöglichen. Möge Allah (t) uns helfen, diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen!
Lehre
Und Allah (t) weiß es am besten!