Originaltext
Sura 110
Übersetzung
Die Hilfe (offenbart in Mekka)
Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen
1. Wenn Allahs HiIfe kommt und der Sieg
2. Und du die Mensehen scharenweise in die Religion Allahs eintreten siehst,
3. Dann lobpreise du deinen Herrn und bitte Ihn um Vergebung Wahrlich, Er wendet Sich oft mit Gnade.
Einer Oberlieferung zufolge berichtete Ibn 'Umar ®, der Sohn 'Umars ®, des zweiten Kalifen, daß diese Sura dem Propheten Muhammad (a.s.s.) während seiner Pilgerreise im Jahre 9 n. H. in Mina, einem Ort in der Nähe von Makka, offenbart worden sei und daß der Prophet (a.s.s.) dadurch erfahren habe, daß es sich um seine letzte Pilgerreise handele, da er nun bald sterben werde.
Viele Oberlieferer meinen jedoch, diese Sura sei erst nach der Rückkehr von der erwähnten Pilgerreise in Medina offenbart worden. Wie dem auch sei - da sie nach der Hicra offenbart wurde, wird sie allgemein den in Medina offenbarten Suren zugerechnet.
In einem Hadit der von Al-Buhâri überliefert wird, fragte 'Umar ® Ibn 'Abbas ® nach der Interpretation dieser Sura, worauf dieser antwortete:
»Es handelt sich um den Zeitpunkt des Todes des Gesandten Allahs (a.s.s.), den Er ihn wissen ließ, indem Er sagte: »Wenn die Hilfe Allahs kommt und der Sieg - (und dies ist das Zeichen deines nahen Todes) - dann lobpreise deinen Herrn und bitte Ihn um Vergebung! Er ist ja bereit zu verzeihen!« Und nach einer Überlieferung von Ahmad sagte der Prophet Muhammad selbst nach der Offenbarung dieser Sura, daß Allah (t) ihm dadurch seinen nahen Tod angekündigt habe. Diese Sura wird deshalb auch »Abschiedssura« genannt. Knapp drei Monate nach Offenbarung dieser Sura, im dritten Monat des Jahres 10 d. H., starb der Prophet (a.s.s.) in Medina.
Der erste Vers dieser Sura heißt:
»Wenn die Hilfe Allahs kommt und der Sieg«.
Während einige Qur'an-Kommentatoren meinen, dieser Vers sei lediglich allgemein zu verstehen und stehe in keinem speziellen Zusammenhang mit einem bestimmten historischen Ereignis, beziehen viele Kommentatoren diesen Vers auf das Ereignis im Monat Ramadan des Jahres 8 n. H., als der Prophet (a.s.s.) mit einem starken Heer nach Makka zog und die Stadt ohne Blut- vergießen einnahm. Dieser Sieg über die Ungläubigen des Stammes der Qurais, dem der Prophet selbst angehörte, der ihm aber seit Beginn seines Prophetentums feindlich gesonnen war und ihn und die Muslime aufs bitterste bekämpft hatte, war nur möglich durch die Hilfe Allahs (t). Aus diesem Grund wird im Vers auch zuerst die Hilfe Allahs genannt, weil sie die Voraussetzung für den darauf erwähnten Sieg war. Diese Interpretation wird auch gestützt durch einen bei Al-Buhâri überlieferten Hadit in dem berichtet wird, daß die arabischen Stämme mit ihrem Obertritt zum Islam bis zur Einnahme Mekkas durch Muhammad (a.s.s.) warteten und sagten:
»Wenn er sein Volk besiegt, dann ist er gewiß ein Prophet.«
Als der Prophet (a.s.s.) nun Makka kampflos eingenommen hatte, traten sie in Scharen zum Islam über, wie es im zweiten Vers dieser Sura erwähnt wird, und dieses Ereignis der Einnahme Mekkas und des darauffolgenden Obertritts vieler Menschen zum Islam war für den Propheten Muhammad (a.s.s.) das Zeichen, daß seine Aufgabe annähernd erfüllt sei und daß er nun mit seinem baldigen Tod zu rechnen habe. Aus den ersten Versen dieser Sura lernen wir auch, daß die Hilfe Allahs (t) kommt, wann Er es für richtig hält, und in einer Weise, wie Er sie will, und daß der Sieg nicht ein Verdienst des Menschen ist, sondern durch die gewollte Hilfe Allahs (t) herbeigeführt wird.
Im zweiten Vers lesen wir:
»und du die Menschen zur Religion Allahs in Scharen übertreten siehst«.
Unter der »Religion Allahs« ist der Islam zu verstehen, denn, wie es in der dritten Sura (Al- Imran, Die Familie Imrans) im 19. Vers heißt:
>Die Religion bei Allah ist der Islam..
Wie wir bereits gesehen haben, war die Einnahme Mekkas durch den Propheten Muhammad (a.s.s.) ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte des Islam. Während vor jenem Ereignis der Prophet (a.s.s.) und die Muslime verhöhnt, verfolgt und bekämpft worden waren und nur verhältnismäßig wenige Menschen ganz vereinzelt zum Islam übergetreten waren, nahmen nun außer den Qurais auch andere arabische Stämme geschlossen den Islam an, und innerhalb von zwei Jahren verbreitete sich diese Religion über die gesamte arabische Halbinsel und dann auch über ihre Grenzen hinaus. Nach einem Hadit den Ahmad überlieferte, erzählte Gâbir ibn Abdullah ® weinend, daß ihm der Prophet (a.s.s.) gesagt habe:
»Fürwahr, die Menschen sind in Scharen zum Islam übergetreten, und sie werden ihn in Scharen verlassen.«
Der bedauerliche Verlauf der Geschichte bestätigt diesen Ausspruch.
Im dritten und letzten Vers heißt es:
»dann lobpreise deinen Herrn und bitte ihn um Vergebung! Er ist ja bereit zu verzeihen.« Gemeint ist also:
»Lobpreise deinen Herrn, und bitte ihn um Vergebung, wenn die Hilfe Allahs eintrifft.« In einem Hadit der von Al-Buhâri, Muslim, An-Nasâ'i, Abu Dâwud und Ibn Mâga überliefert wird, berichtet 'A'isa ®, die Frau des Propheten (a.s.s.), daß der Gesandte Allahs im Ruku' und Sugûd seiner Gebete Allah (t) häufig lobpries und Ihn oft um Vergebung bat. Und bei Muslim und Ahmad heißt es in einem weiteren Hadit daß der Prophet (a.s.s.) sagte:
»Fürwahr, mein Herr teilte mir mit, daß ich in meinem Volk ein Zeichen sehen würde, und Er befahl mir, Ihn zu lobpreisen, sobald ich das Zeichen sehe, und Ihn um Vergebung zu bitten;
Er ist gewiß bereit zu verzeihen. Und ich habe das Zeichen gesehen: Wenn die Hilfe Allahs kommt und der Sieg und du die Menschen zur Religion Allahs in Scharen übertreten siehst, dann lobpreise deinen Herrn und bitte Ihn um Vergebung! Er ist ja bereit zu verzeihen.« Es ist ebenfalls überliefert, daß der Prophet (a.s.s.) am Tage der Einnahme Mekkas vormit- tags acht Rak'as betete; daraus wird abgeleitet, daß es wünschenswert ist, daß der Führer eines islamischen Heeres acht Rak'as betet, sobald er ein Gebiet erobert hat. So praktizierte es z. B. später auch Sa'd ibn Abî Waqqâs ®, ein bekannter Feldherr des Islam.
Diesem Vers entnehmen wir also, daß wir Allah (t) preisen sollen, wenn Er uns Hilfe zukommen lassen und uns zu einem Erfolg verholfen hat. Wir dürfen nicht denken, daß unser Gelingen unser eigenes Verdienst sei, sondern müssen uns vielmehr immer vergegenwärtigen, daß ohne Allahs Hilfe und ohne Sein Wollen nichts geschehen kann. So sollte auch der Prophet Muhammad (a.s.s.) nach der problemlosen Einnahme Mekkas Allah (t) für Seine Hilfe danken, insbesondere, nachdem er so schwere Jahre der Verfolgung und Bekämpfung erlebt hatte. Nach dem Lobpreis wird in diesem Vers die Bitte um Vergebung angesprochen. Einige Qur'an-Kommentatoren sagen, daß hiermit gemeint sei, der Prophet (a.s.s.) solle in verstärktem Maße Allah (t) um Vergebung bitten, weil er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Nach Meinung anderer besagt dieser Vers, der Prophet (a.s.s.) solle für die gesamte islamische Gemeinschaft um Vergebung bitten.
Die letzten Worte dieser Sura legen eindeutig fest, daß es einerseits nur Allah (t) ist, Der Vergebung erteilen kann, und daß Er andererseits auch gewillt ist, Gnade walten zu lassen und Sünden nachsichtig zu vergeben.
Dieser letzte Vers lehrt uns, daß selbst im Gefühl des höchsten Erfolges der Mensch nicht übermütig und überheblich in seiner Freude werden soll. Die Einnahme Mekkas gibt uns hierfür ein leuchtendes Beispiel: Trotz grausamster Verfolgung und schändlichster Demütigung, die der Prophet (a.s.s.) und andere Muslime durch die heidnischen Bewohner Mekkas erlitten hatten, wurde beim Einmarsch in die Stadt kein Tropfen Blut zu unrecht vergossen, kein Haus wurde geplündert, und die Führer Mekkas wurden verschont. Der Prophet (a.s.s.) erklärte:
»Keine Rache sei genommen, keine Strafe verhängt: ich vergebe euch!« Und als erstes betrat er die Kâ'ba, betete zu Allah (t) und dankte Ihm und pries Ihn. Doch nicht nur der Prophet Muhammad (a.s.s.) ist für uns ein Vorbild in dieser völligen Gottergebenheit, Nachsicht und Verzeihung - auch von anderen Propheten (a.s.) sowie Staatsmännern und Feldherrn des frühen Islam wird solche Großherzigkeit berichtet. So mußte z. B. der Prophet Joseph (a.s.) durch seine eigene Familie viel Leid erfahren; als er aber schließlich in eine hohe Machtposition gelangt war, verzieh er seiner Familie, ehrte sie und dankte Allah (t) für Seine Gnade. Denn Joseph (a.s.) wußte, daß er nur durch die Hilfe Allahs (t) allem Übel entronnen war.
Auch der Prophet Salomo (a.s.) wußte, daß er in erster Linie durch die Gunst Allahs (t) seine Herrscherwürde erlangt hatte und nicht allein durch das Wohlwollen seines Volkes. Und er sagte deshalb:
»Das ist eine von den Wohltaten meines Herrn, um mich zu prüfen, ob ich dankbar oder undankbar bin« (Sura 27, An-Naml, Die Ameisen: Vers 40).
In gleicher Weise, wie der Prophet Muhammad (a.s.s.) bei der Einnahme Mekkas verfuhr, handelten auch nach ihm die Feldherren und Kalifen des frühen Islam. Diese hier geschilderte Grundeinstellung eines gläubigen Muslims ist Ausdruck seines festen Glaubens an Allah (t) und gibt ihm Kraft, Überlegenheit und Freiheit. Möge Allah (t) uns zu dieser Grundeinstellung finden lassen!
Lehre
Und Allah (t) weiß am besten!