Al-Ghasali (1058 – 1111)

Abu Hamid ibn Muhammed al-Ghasali wurde 1058 in Tus in Chorosan (Persien) geboren. Er und sein Bruder waren früh Waisen. Zur Ausbildung kam er bald nach Nissapur und genoss dort den Unterricht des damaligen Hauptes der schafitischen Rechtsschule. Er war sehr gelehrig und besaß einen unersättlichen Wissensdrang. Außer seinem Fach, der Rechtswissenschaft, studierte er alle Arten von Philosophie und Theologie. Nachdem sein erster Lehrer 1085 gestorben war, begab er sich an den Hof des Seldschukenwesirs Nisam al-Mulk, dessen Gunst er bald errang. Dieser schickte ihn 1091 an die von ihm begründete und nach ihm benannte Hochschule in Baghdad. Hier belehrte Al-Ghasali, der damals 33 jährige Jurist, etwa 300 Schüler. Er schrieb auch viel über Recht und Religion. Bei aller Liebe zu juristischen Spitzfindigkeiten und dialektischen Auseinandersetzungen beseelte ihn doch vor allem eine immense Wahrheitssehnsucht. Er war von früh an ein Skeptiker und besaß keinen Glauben an überlieferte Autoritäten, sondern wollte selber prüfen:

„Denn es ist eine Bedingung des Autoritätsglaubens, dass er seinem Träger nicht bewusst ist. Sobald der Autoritätsgläubige merkt, dass er autoritätsgläubig ist, zerbricht das Glas seines Glaubens, und die Scherben lassen sich nie wieder zusammenflicken.“

So studierte er in rastlosem Eifer die Lehren aller Sekten und Philosophen seiner Zeit mit solcher Gründlichkeit, dass er von sich sagen konnte, es habe keinen Philosophen gegeben, dessen System er nicht vollkommen zu verstehen sich bemüht, keinen dogmatischen Dialektiker, dessen Beweisführung er nicht bis zu Ende nachgeprüft, keinen Sufi, in dessen Geheimnisse er nicht einzudringen versucht habe, keinen Ketzer, dessen Ketzerei er nicht auf den Grund gegangen sei. Eine Sekte, die Batinijja (Ismaeliten), benutzte seine Streitschrift, die er zu ihrer Widerlegung geschrieben hatte, sogar als ihr bestes Lehrbuch, denn er habe ihre Lehre klarer dargestellt, als sie es selbst gekonnt hätten. Ein Mitglied dieser Sekte ermordete 1092 Nisam al-Mulk.

Doch all diese umfassende Kenntnis konnte Al-Ghasalis Durst nach Gewissheit nicht stillen. Wer hatte nun wirklich recht? Wo lag die Wahrheit? Die Menschen übernahmen wie selbstverständlich von Eltern und Lehrern die widersprechendsten Meinungen. Warum? Mohammed hatte gesagt, dass jeder mit der ursprünglichen Anlage zum Islam geboren würde, nur seine Eltern machten den Menschen dann zu etwas anderem. Was war also die ursprüngliche Anlage des Menschen? Daraufhin prüfte er alle Lehren, aber er merkte bald, dass er dafür erst die Kriterien der Wahrheit selbst untersuchen musste. Die Wahrnehmungen der Sinne erwiesen sich ihm vor dem Forum des Geistes als trügerisch und ungenügend. Sie waren wandelbar, während die Grundsätze der Logik als axiomatische Wahrheiten des Intellekts immer dieselben blieben. Aber wie stand es mit der Zuverlässigkeit des Intellekts? Darüber sagte er:

„Die sensuelle Erkenntnis sprach zu mir: Wieso bist du sicher, dass es mit deinem Vertrauen auf die intellektuelle Erkenntnis besser gehen wird als mit dem Vertrauen auf die sensuelle Erkenntnis? Erst hattest du Vertrauen zu mir, da kam der Richter des Intellekts und strafte mich Lügen. Wenn er nicht gewesen wäre, hättest du weiterhin an meine Wahrhaftigkeit geglaubt. Vielleicht gibt es aber hinter der intellektuellen Erkenntnis noch einen anderen Richter, der, wenn er einmal zutage tritt, den Intellekt ebenso Lügen straft, wie der Intellekt die Sinne Lügen strafte. Dass ein solcher Richter sich bisher noch nicht gezeigt hat beweist nicht, dass er sich nicht eines Tages zeigen könnte.“

Die Erfahrungen des Traumlebens ließen ihn die Richtigkeit dieser Argumentation besonders einleuchten. Glaubt man nicht auch im Schlaf fest an die Wirklichkeit und Richtigkeit des Erlebten, bis das Erwachen die Nichtigkeit der Traumgebilde erweist? Wäre nicht ein Zustand denkbar, der sich zu unserem Wachsein so verhielte wie das Wachsein zum Traum, so dass unser Wachsein im Verhältnis zu ihm nur ein Traum wäre? Durch solche Gedanken kam Al-Ghasali dazu, sich intensiver mit der Mystik der Sufis zu befassen. War vielleicht der meditative Zustand der Sufis, in welchem sie behaupteten, überrationale Dinge zu sehen, diese Wirklichkeit? Oder war sogar das ganze irdische Leben nichts als ein trügerischer Traum und der Tod das eigentliche Erwachen?

Durch solche Gedanken kam Al-Ghasali in eine heftige innere Krise. Der quälende Zustand dauerte etwa zwei Monate. Dann kam ihm wieder das Licht und er verstand die relative Wahrheit des Intellekts, der immerhin den Beweis erbringt, dass zuverlässige Erkenntnis nur eine höhere Wirklichkeit geben kann. Dadurch wandte sich Al-Ghasali noch stärker der Sufi-Mystik zu. Er merkte nämlich bald, dass eine Auseinandersetzung mit dem Sufismus auf rein intellektuellem Boden, durch Lesen ihrer Schriften und durch Prüfen ihrer Argumente nicht möglich ist. Handelte es sich doch bei den Sufis um eine praktische Regelung des persönlichen Lebens, um eine erzieherische, heilende Behandlung der Seele, bei der es nicht auf viele Kenntnisse, sondern auf die Anwendung der Selbsterziehungs-Methoden ankam. Loslösung von der Welt und alleinige Ausrichtung auf Gott: das ist die Grundforderung der Sufis.

Nun begann er sich selbst und sein Leben zu prüfen. War er von allen Bindungen an die Sinnenwelt frei? War sein Streben so der Überwelt zugewandt, dass alle weltliche Neigung davor schwand? Er erkannte sofort, dass Ehr- und Ruhmsucht ihn verzehrte und antrieb, dass er tief in die Weltlichkeit verstrickt war. Was sollte er tun? Ein halber Jahr quälte er sich damit herum. Er sah sich auf dem bisherigen Wege unmittelbar zur Hölle eilen, aber wenn er sich entschloss, Baghdad zu verlassen, dann hielten ihn tausend Fesseln. Und so schwankte er hin und her. Er konnte zu keiner Entscheidung kommen. Da nahm ihm der Körper die Entscheidung ab. Er brach zusammen. Seine Zunge wurde gelähmt. Er konnte keine Vorlesung mehr halten. Auch der übrige Leib versagte ihm den Dienst. Er konnte nichts mehr essen. Es war ein völliger Nervenzusammenbruch, so dass die Ärzte ihn schon aufgaben. Da flüchtete er sich ganz nach innen, zu Gott. Und die innere Stimme befahl ihm, die Welt zu verlassen und als Sufi zu leben. Kaum hatte er sich entschlossen, Ruhm und Ehre, Weib und Kind, Geld und Gut aufzugeben, da schwand seine Krankheit. Er legte seine Professur nieder und erklärte, er wolle die Pilgerfahrt nach Mekka antreten. Sein Bruder übernahm seinen Lehrstuhl.

Zunächst begab er sich nach Syrien (1095), wo er zwei Jahre in Einsamkeit verbrachte. Auf dem Minarett der großen Moschee von Damaskus meditierte er. Von da aus ging er nach Jerusalem und setzte im Felsendom seine einsamen Übungen fort. Da machte er sich auf die Pilgerfahrt nach Mekka (1097) und wanderte anschließend als Sufi durch die arabischen Lande, hie und da predigend von der Weltüberwindung und der Vorbereitung auf das Jenseits. Was er in den elf Jahren der Einsamkeit innerlich erlebt hat, deutete er später nur an, ohne deutlicher davon zu sprechen.

Zwei Übersetzungsvarianten eines Verses:

Es war, was war,
was ich nie sagen werde:
du denke gut daran
und frage nicht. Worum es sich handelt
kann ich nicht sagen:
preise mich glücklich,
Mehr sollst du nicht fragen.

Er erlebte aber manche mystische Erfahrungen, die ihm die ersehnte Gewissheit gaben. Die inneren Fenster der Seele öffneten sich ihm. Jetzt verstand er das Wesen des Prophetentums. Er sagte, wer das ekstatische Erleben nicht koste, der kenne vom wahren Wesen des Prophetentums nur den Namen.

Die Frucht seiner Erfahrungen schrieb er in arabischer Sprache in seinem Hauptwerk nieder: ‚Die Wiederbelebung der Wissenschaft von der Religion’. Später erschien eine Kurzfassung in persischer Sprache unter dem Titel ‚Elexier der Glückseeligkeit’. Das Elexier war ihm das Heilmittel, um sich vom Tier zum Engel zu wandeln und damit die ewige Glückseeligkeit zu erlangen. Der erste Teil handelt vom Erkennen: Selbst, Gott, Welt und Überwelt. Der zweite Teil handelt von der Praxis und zerfällt in vier Gruppen zu je zehn Kapiteln, nämlich über Kult, Tugend, Herzensläuterung, Reinigung und Herzensschmuck.

Die vierzig Kapitel lauten:

Bekenntnis des Islam, Suche nach der heiligen Wissenschaft, Reinheit, Gebet, Almosen, Fasten, Wallfahrt, Lesen des Korans, Gottesgedenken, Litanei.

Tugend beim Essen, bei der Ehe, beim Beruf, Streben nach Erlaubtem, Freundschaft, Einsamkeit, Reisen, Musikhören und Ekstase, Förderung des Guten und Verhinderung des Schlechten, Beschützen der Untertanen und Regieren.

Erziehung der Seele, Heilung von Völlerei und Wollust, Heilung der Zunge, Heilung von Zorn und Hass und Neid, Heilung von Weltliebe, Heilung von Besitzgier, Heilung von Ruhmsucht, Heilung von Scheinheiligkeit und Heuchelei, Heilung von Hochmut und Eitelkeit, Heilung von Verblendung und Sorglosigkeit.

Bekehrung und Herauskommen aus dem Unrechttun, Dank und Geduld, Furcht und Hoffnung, Armut und Weltentsagung, reine Absicht und lautere Aufrichtigkeit, Selbstbeobachtung, Meditation, Gottvertrauen und Bekenntnis zur Einheit, Liebe und Sehnsucht zu Gott, Gedenken an Tod und Jenseits.

Dieses Buch, in dem er die Gesamtheit seiner Erfahrung niederlegte, machte ihn auch im Abendland bekannt (Algazel). Was er in diesem Buch aufzeigt ist die Macht des Herzens, auf dessen Läuterung alles ankommt. Der Intellekt dient ihm nur als Mittel, das ausschließliche Vertrauen in ihn zu zerstören und nach höherer Schau zu streben.

Als er 1106 auf seinen Wanderungen wieder in seine persische Heimat kam, bot ihm der Sohn seines Gönners, Fachr al-Mulk, einen Lehrstuhl an der Universität Nissapur an. Al-Ghasalis Freunde sprachen sich alle dafür aus. Schließlich gab er nach, auf den Tag genau elf Jahre nach der Niederlegung seiner Professur in Baghdad. Doch bald zog er sich in seine Heimatstadt Tus zurück, gründete dort ein Sufikloster und verbrachte seine Zeit halb dort und halb als Lehrer an der Medrese von Tus. Etwa ein Jahr vor seinem Tod schrieb er eine Art Autobiographie. Einst hatte er Wissenschaft gelehrt, durch die man Ruhm erntet. Jetzt lehrte er eine solche, durch die man Ruhm preisgibt.

Als er gerade das Buch ‚Über die Standhaftigkeit beim Sterben’ von Ibn Dschausija las, fühlte er sein Ende nahen. Er vollzog die rituellen Waschungen, ließ sich das Leichentuch geben, legte es auf seine Augen, und mit den Worten: „Ich höre und ich bin bereit zum Eintritt beim König“ starb er heiteren Sinnes am 12.12.1111 (505 d.H.).

@ Ekrem Yolcu