Informationszentrale
Dâr-us-Salâm 1997
3. Auflage
Das Urheberech liegt beim Autor.
Hrsg.: Informationszentrale Dâr-us-Salâm
Redaktion: Tilmann Schaible
ISBN 3-932129-71-7
Dieser
Beitrag wurde verfasst im Juli 1981 und erstmals veröffentlicht in der Islamischen
Bibliothek Köln.
Ein philosophischer weg zum Islam:
Vorbemerkung
I. Philosophie im Islam
II. Ein philosophischer Weg zum Islam
EIN PHILOSOPHISCHER WEG ZUM ISLAM
Vorbemerkung
Manchem erscheint die Vernunft zur Wahrheitsfindung schlechthin untauglich. Manch anderem
erscheint die Vernunft als eine Leiter, die es auf dem Weg zur Wahrheit zu benutzen - dann
aber wegzuwerfen - gilt. Wie dem auch sei: Die Vernunft zur Aufhellung des Daseins und
seiner Bedeutung zu nutzen, ist eine Aufgabe, die der Mensch nur bei Verlust an Würde
vernachlässigen kann. Auf diesem Wege, jedoch nicht nur auf ihm, bin ich schließlich in
strenger Konsequenz zur Annahme des Islam gelangt: Alhamdu lillah. Dabei spielte jedoch
auch dasjenige eine Rolle, was ich in Ziffer 11 "Affinitäten der Psyche" nenne,
also eine geistige Verwandtschaft mit der islamischen Erscheinungswelt.
Diese karge philosophische Grundlegung eignet sich nicht zur schnellen Lektüre, ist doch
fast jeder Satz ein (darob apodiktisch klingendes) Kondensat, das in seiner Herleitung wie
in seiner Schlussfolgerung mitvollzogen sein will. Ich bin's zufrieden, wenn das
gedankliche Mitschreiten dieses "Philosophenwegs" einsichtig macht, dass die
jüngste der großen Weltreligionen sich gegenüber ihren älteren Geschwistern als
weiterführende Stufe begreifen darf. Hoffen möchte ich, dass manchem Leser dabei auch
einzuleuchten beginnt, dass das gewaltige, unvermenschlichte Gottesbild, dem Muhammad als
"Siegel der Propheten" zum Durchbruch verhalf, das dem modernen,
naturwissenschaftlich orientierten, emanzipierten Menschen gemäße ist.
Der in der Scholastik einflussreiche muslimische Philosoph Abu Walid Muhammad ibn Ruschd,
genannt Averroës (1126-1198), schrieb in seinem Buch "Fasl al-maqal":
"Philosophie ist die Freundin und Stiefschwester der Religion". In diesem Bild
fasste er die These zusammen, dass vernunftgerechte Philosophie (Falsafa) nicht nur
notwendigerweise mit Religion vereinbar sei; beide stünden - recht verstanden - in
Harmonie zueinander.
Dieser Standpunkt war schon zu Lebzeiten von Ibn Ruschd umstritten und ist es geblieben.
Die ihm vorausgegangene islamische Philosophieschule, die Mu'tazila, konnte sich
beispielsweise mit ihrem scheinbar rationalen Herangehen an die Offenbarung als geradezu
gefährlich für die Religion erweisen, indem sie der Vernunft Priorität einräumte.
Unter ähnliche Kritik war die Philosophie jedoch nicht nur bei denen geraten, welche -
wie Malik ibn Anas (715-795) - die Möglichkeit verneinten, über Qur'an und
Überlieferung (Sunna) hinaus metaphysische Kenntnisse zu erlangen. Auch der geniale,
umfassendste Geist seiner Zeit, Abu Hamid Muhammad al-Ghazali, genannt Algazel
(1058-1112), bezeichnete Philosophie, nach Durchlaufen aller Stufen seines der
Wahrheitssuche gewidmeten Lebens, als eine - Sackgasse.
Wenn schon er diesen Schluss zog, muss der moderne Mensch dann nicht noch skeptischer
sein? Schließlich deduzierten die klassischen Denker des Hochislam, wie Abu Ali Husain
ibn Sina, genannt Avicenna (980-1037), im Gefolge ihres Vorbildes Aristoteles ja noch
immer syllogistisch aus "unzweifelhaften Prämissen", welche uns heute in der
Nach-Wittgenstein-Ära als naive Mutmaßungen gelten.
II. Ein philosophischer Weg zum Islam |
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Vor diesem Hintergrund denn soll aufs Neue erprobt werden, was es mit Philosophie und
Islam auf sich hat:
1.
Alles, was wir zu erfahren glauben, geht auf Sinneserfahrungen zurück.
Dies gilt auch für die menschliche Logik. Ihr Funktionieren im sinnlich
erfahrbaren Bereich beweist nicht ihre metaphysische Gültigkeit. Gegen eine solche
Gültigkeit sprechen mathematisch-naturwissenschaftliche Hypothesen wie von sich im
Unendlichen treffenden Parallelen oder von Atompartikeln mit gleichzeitiger
Präsenz an verschiedenen Orten oder von der Zeit als vierter Dimension.
Dies gilt auch für sogenannte Naturgesetze. Die quantifizierende
naturwissenschaftliche Methode, die eo ipso zu keinen Aussagen über das Wesen der Natur
(Welt) führen kann, leitet die Allgemeingültigkeit ihrer Ergebnisse auf die unzulässige
Verallgemeinerung sinnlich-empirischer Erfahrungen zurück. Wissenschaftstheoretiker wie
Hugo Dingler und Skeptiker wie David Hume weisen zu Recht darauf hin, dass nicht einmal
das Kausalitätsprinzip naturwissenschaftlich abzusichern ist.
Dies gilt auch für Ideen (Universalien). Als Abstrakta sind sie Produkte der
sinnlich fundierten menschlichen Analyse der erfahrbaren Umwelt und erschöpfen darin ihre
(geistige) Realität.
Dies gilt auch für sogenanntes Apriori-Wissen, wie etwa "ererbte"
Strukturvorstellungen von Raum und Zeit sowie Sinn und Zweck des Daseins. Jedenfalls
akzeptieren wir als "a priori" erkannt nur etwas, was unserer Sinneserfahrung
nicht widerspricht.
Dies gilt auch für Mathematik. Als tautologisches Spiel beruht ihre Gültigkeit
auf axiomatischen Definitionen. In dieser (geistigen) Funktion erschöpft sich auch ihre
Realität.
Dies gilt schließlich auch für sogenannte seelische bzw. irrationale Erfahrungen.
Der Mystiker erlebt seine Erfahrungen in den Bildern / Worten seiner Sprache
aufgrund physisch induzierter "psychischer" Zustände. Gleiches gilt auch für
die metaphysische Spekulation des "prophetischen" Dichters.
2.
Sinneserfahrungen sind unzuverlässig.
Unsere Sinne sind unvollständig. (Blindheit, Taubheit, Geruchsverlust,
Farbblindheit können uns dies ahnen lassen.)
Unsere Sinne vermitteln nur Oberflächen- bzw. quantifizierbare, also keine qualitativen
Eindrücke.
Unsere Sinne sind leicht zu täuschen. (Erhöhte Temperatur oder eine Chemikalie genügen,
uns dies erleben zu lassen.)
3.
Sinneserfahrungen bestimmen über die Sprachentwicklung unser Denken.
Unser Denken vollzieht sich sprachlich. Wir denken auch dann in Worten (Begriffen,
Assoziationen), wenn wir zu "schauen" meinen.
Die Aussagefähigkeit der Sprache beschränkt sich auf die Aussagefähigkeit ihrer Worte.
Diese sind Abstrakta von sinnlich, also unzuverlässig Beobachtetem. Was nicht
zuverlässig sinnlich erfahren werden kann, kann auch nicht sinnvoll gesagt werden.
4.
Aufgabe der Philosophie ist es ausschließlich, nach Vorbild von Fritz Mauthner und
Ludwig Wittgenstein - noch radikaler als Immanuel Kant - Erkenntniskritik zu sein,
also die Grenzen des Sagbaren aufzuzeigen.
Dabei wird sich zeigen, dass philosophische Fragen, die mit ungesicherten, also
spekulative "metaphysischen" Begriffen formuliert sind, unsinnige Fragen sind.
Es wird sich ferner zeigen, dass die Anwendung unserer Logik auf nicht erfahrbare Bereiche
in die Absurdität von Sprachspielen führt. ("Wie viele Beine hat das
Einhorn?")
Ungesicherte Begriffe sind alle Aussagen über Metaphysisches. Schon die Begriffsbildung
von Gegensatzpaaren wie "Geist" und "Materie" ist Sprachspiel.
Wir können sonach aus eigener Kraft nur wissen, dass wir nichts Metaphysisches
ermitteln können, und sind damit an der Grenze zwischen Philosophie und Religion
angelangt.
5.
An diesem Punkt stellt sich die entscheidende Frage: Glauben wir, dass die Grenzen des
sinnlich Erfahrbaren zugleich die Grenzen des Existierenden sind? Oder glauben wir an
Realität jenseits der Perzeption?
Dies ist keine Frage, die mit autonomem Wissen beantwortet werden kann. Sie zu bejahen,
ist nicht weniger rational oder irrational, als sie zu verneinen.
Gleichwohl bleibt die Suche nach einer Antwort darauf aus Gründen der menschlichen Würde
intellektuelle Herausforderung und menschliches Dilemma.
6.
Beim Denken sind wir aufgrund des Vorgeprägtseins durch die sinnlich erfahrbare Umwelt
gezwungen, mit ungesicherten Begriffen wie "Anfang" und "Ende" sowie
"Ort", "Zeit" und "Kausalität" umzugehen, denen keine
metaphysische Realität entsprechen mag. Diese Vorprägung des Denkens - unsere
"praktische Vernunft" - gebietet es uns, von der Existenz der Welt auf die
Existenz eines Schöpfers von höherer Individualität (Intelligenz) als unserer
eigenen zu schließen. Wir sind gezwungen, von einem Gott als hinreichender
Kausalität aller Seinswirklichkeit zu denken, obwohl wir wissen, dass wir uns auch
insoweit in ein Sprachspiel verwickeln. (Die Unvorstellbarkeit von
Unerschaffenheit, Grenzenlosigkeit, Endlosigkeit wird durch einen Begriff wie
"Gott" nicht erklärt, weil auch dieser Begriff unvorstellbar und
unerfahrbar ist.)
Es bleibt die Möglichkeit, in Erkenntnis der nominalistischen Natur des Wortes
"Gott" seine Existenz zu bejahen, ohne darüber hinaus eine Aussage zu
treffen. (Etwa so wie islamische Sufis, welche als "Dhikr"-Gebet lediglich das
Wort "Allâh" wiederholen.)
Es bleibt die Möglichkeit, darüber hinaus die Einheit Gottes "logisch"
(d.h. definitorisch) auszusagen.
Es bleibt die Möglichkeit, darüber hinaus Gott Eigenschaften in höchster Potenz
zuzusprechen, anfangend mit dem "Ewigwährenden" der 112. Sure (Allâhus-samad)
über den "Allerbarmer" und "Barmherzigen" (Allâh ar-rahmân
ar-rahîm) bis hin zum Allwissenden, Gerechten und Liebenden, also in einer Skala der
Vermenschlichung (anthropomorphes Gottesbild), im Sinne von "Sein sind die
schönsten Namen" (Suren 20:8 und 59:24).
Je konkreter diese Aussagen, um so ungesicherter und potentiell unsinniger sind sie, da
wir unsere erkenntniskritisch(sprachphilosophisch)gezogenen Grenzen überschreiten, sobald
wir uns eine Vorstellung - also "ein Bild" - von Gott machen.
Umgekehrt sind solche Aussagen potentiell um so weniger unsinnig, je abstrakter sie sind,
etwa in der islamischen Weigerung, sich vorzustellen, dass Gott gezeugt haben oder dass
Sein Verhalten mit Begriffen wie "gut" und "böse" qualifiziert werden
könnte.
7.
Wir haben es somit mit folgenden Versuchungen zu tun:
Die Versuchung zur Vermenschlichung des Gottesbildes. Dies kann Blasphemie werden,
sobald unterstellt wird, dass die Summe der Gott zugesprochenen Eigenschaften seine
Wirklichkeit umschreibt.
Die Versuchung, Gott als Kontrast darzustellen. Dies führt zu dualistischen
Begriffskonstruktionen wie "Geist" und "Materie" oder
"Licht" und "Dunkel" und zu Religionen wie dem Zoroastrismus und
Manichäismus.
Im Reagieren hierauf führt dies aber auch zum Monismus eines Plotin und eines Pantheismus.
Wenn der islamische Mystiker al-Halladsch sagte: "Ich bin die Wahrheit", wollte
auch er nur sagen: Gott entwickelt sich in uns allen.
Die Versuchung, Gott so sehr zur "reinen Idee" eines
physikalisch-chemisch-biologischen Urschlamms, -bewegers oder -verursachers werden zu
lassen, dass er irrelevant wird: Gott als unhistorische Rahmenbedingung. (Da unter den
Bedingungen der Unendlichkeit jede Möglichkeit zur Gewissheit wird, könnte ein
solcher Gott seine Funktion durch Programmierung des "Zufalls" im beim
Auslösen der Entwicklung erschöpft haben.) Ein solches "deistisches"
Gottesbild im Sinne von Voltaire und Goethe ist jedoch schon definitorisch defekt, da Gott
nur mit mindestens denjenigen Eigenschaften vorstellbar ist, die der Mensch besitzt, dies
jedoch im Höchstmaß.
Sämtliche konkretisierten Gottesvorstellungen führen uns auf das Glatteis von
Sprachspielen. Es mag sich um Wunschträume, unsinniges Gestammel und unzulässige
Analogien handeln (Sure 16:74: "Prägt also für Gott keine Gleichnisse.").
8.
Gott, nicht jedoch "Seele" und "Unsterblichkeit" des Menschen, ist
Denknotwendigkeit. Das Bedürfnis nach Weiterleben beweist lediglich dieses Bedürfnis.
Auch bei Annahme einer Entelechie, also zweckgerichteter Welt, können
"Himmel", "Hölle", "Jüngstes Gericht" nur als gottgewollt,
nicht aber als einsichtbare Seinsnotwendigkeit begriffen werden. Der Sinn des Seins
könnte das Da-sein und So-sein sein.
9.
Die Existenz Gottes schließt die Möglichkeit von Offenbarung ein, also der für Menschen
aufbereiteten Vermittlung von nichteinsehbarem Wissen durch einen Wissensvermittler.
Propheten sind nicht als religiös-philosophisch genial begabte Menschen höherer Einsicht
zu verstehen, also als Mozart oder Gauß der Metaphysik. Geniale Menschen stoßen
letztlich ebenfalls an die uns gezogenen Grenzen des Erfahrbaren. (Ob wir das Auge oder
ein Elektronenmikroskop verwenden, ist insoweit unerheblich.) Der Glaube an Propheten
setzt somit den Glauben an Gott voraus und kann ihn nicht begründen.
Propheten sind in dem Sinne vorstellbar, dass "Gott ... zu allem imstande (ist)"
(Sure 16:77), also als von einem sich geschichtlich manifestierenden Gott gewollt. Auch
solche Propheten können nur instrumental sein, also - indem sie im metaphysischen
Bereich Unsagbares sagen - zur vollen Einsicht in das von ihnen Verkündete unfähig sein.
Der Islam sieht dies klar: "Ich bin nur ein Mensch wie ihr" (Sure 18:110) bzw.
"Der Gesandte hat nur die Botschaft auszurichten" (Sure 5:99).
Propheten müssen sich unserer metaphysisch untauglichen Sprache bedienen, also zu
metaphysischen Tatsachen in allegorischen Bildern sprechen, die zwangsläufig
menschlich-mythische Assoziationen auslösen. Auch Prophetie kann daher nur verzerrte
Blicke - "Durchblicke" - auf die Wirklichkeit vermitteln. Offenbarung ist somit
stets ein Interpretationsproblem, das sich ebenfalls nur unter Beachtung der
sprachkritischen Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit sinnvoll lösen lässt.
Der Versuch, Offenbarung mit den Mitteln der Vernunft (Kalâm) aufzubereiten und -
wie die Scholastiker bzw. im Islam die Mu'taziliten - kosmologisch zu interpretieren,
führt daher zum Unsinnigen.
Der Versuch, Offenbarung mit den Mitteln des Irrationalen mystisch aufzubereiten,
führt daher zum nur subjektiv Relevanten.
Dies rechtfertigt die intellektuell konsequente Weigerung der hanbalitisch-wahhabitischen
Rechtsschule, metaphysische Allegorien interpretativ einsichtiger machen zu wollen.
10.
Die Unterscheidung zwischen echten und falschen Propheten übersteigt ebenfalls
unsere intellektuellen Fähigkeiten, da wir nicht in der Lage sind, perzeptionell
abgesicherte Maßstäbe an die Beurteilung metaphysischer Aussagen anzulegen.
Daher ist die Anerkennung eines Propheten bzw. die Annahme einer Offenbarung keine
Wissens-, sondern ebenfalls eine Glaubensentscheidung, ob sich ein Prophet nun durch
"Wunder" legitimiert sieht oder nicht. Diese Notwendigkeit hat
bezeichnenderweise im zweiteiligen islamischen Glaubensbekenntnis Niederschlag gefunden
("Lâ ilâha illâ-llâh, Muhammadar-rasûlu-llâh"). Es trägt der
Tatsache Rechnung, dass alle theistischen Religionen auf der doppelten Entscheidung
beruhen, an Gott und einen (oder mehrere) Propheten zu glauben.
11.
Somit führt selbst unter der Annahme der Prophetie die Lebensanschauung (über den
Weg der sprachlich aufgebauten Kultur) zur Annahme und Ausgestaltung religiöser
Überzeugungen. Die kulturellen Bedingungen sind es somit, welche über Affinitäten
der Psyche den Boden auch im Religiösen bereiten.
Dabei wird sich jede Kultur (vor dem Hintergrund der von ihr und für sie
sprachlich-begrifflich-analytisch aufbereiteten Umweltanschauung) für das für sie plausibelste
Gottesbild entscheiden.
Vor dem Hintergrund westlich-individualistisch-rationaler Erziehung ist dasjenige
Gottesbild das plausibelste, das ein Höchstmaß an göttlicher Intensität mit dem
geringsten Maß an theologischer Spekulation und ritualistischen Tabus umgibt: diejenige Gottesvorstellung,
die Gott nicht verniedlicht und nicht verinstrumentiert.
12.
Unter Menschen gibt es an dieses Ideal nur Annäherungen.
Unter allen Annäherungen (Taoismus, Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus, Manichäismus,
Platonismus, Midas-Kult, Judentum, Christentum und Islam) wirkt die islamische
Gottesvorstellung als die reinste (und doch nicht abstrakt verflüchtigte),
gewaltigste (und doch dem Menschen seine Relevanz belassende), klarste (und doch
toleranteste). Dies findet seine ästhetische Entsprechung in der islamischen Kunst
der abstrakten, anfangs- und endlosen Arabeske.
Der islamische Gottesbegriff hat sich geradlinig entwickelt.
Etappen waren
- der stammesgebundene Polytheismus, der (jedenfalls nach Unterwerfung eines
Stammes durch den anderen) zur Götterhierarchie führen musste;
- der sich daraus schließlich destillierende Dualismus;
- der jüdische Schein-Deismus (eines Stammesgottes Jehova);
- die globale Gottesvorstellung der Christen, die jedoch durch Vergötterung zur
Vergöttlichung des Propheten Jesus aufgrund persisch-indischer (auch noch im Schi'ismus
wirksamer) Inkarnations-, Erlöser-, Himmelfahrts- und Wiederkehrvorstellungen führte (Trinitätstheorie);
- Muhammads radikaler ibrahimischer Theismus des einen, einzigen, nicht
erzeugten und nicht erzeugenden Gottes, der Muhammad entwicklungstheoretisch zum
"Siegel der Propheten" werden ließ.
Entwicklungsgeschichtlich ist der islamische Gottesbegriff "modern"
geblieben, da er der abstrakteste ist, und da der Islam mangels Erlösungsdoktrin keine
Sakramente (also weder Priester noch Kirche) kennt und den Muslim als grundsätzlich
mündig (also keinerlei Vermittlung bedürftig) seinem Gott mit einem Höchstmaß an
Individualität gegenüberstellt. Ob er ein Muslim ist, bestimmt der Muslim selbst,
alleine.
13.
Gleichwohl stellt jede Konkretisierung religiöser Vorstellungen keine Ausweitung des
Erfahrbaren dar, sondern einen Glaubens-(sprich: Willens-) akt, für wahr zu
halten, was erkenntniskritisch nicht verifizierbar ist. Der Agnostiker tut diesen Schritt
nicht und wahrt so seine intellektuelle Würde; der Gott Vermutende und auf dieser
Grundlage Bejahende wahrt seine intellektuelle Würde im (bescheidenen) Bejahen seiner
Kreatürlichkeit (sprich: Beschränktheit). Die Relevanz der religiösen Entscheidung
liegt somit nicht in Konsequenzen für das Ethische (Moralische) oder die Chancen des
Fortlebens, sondern in der Würdigkeit (im existenzphilosophischen Sinne) der Haltung des
Einzelnen.
14.
Wenn jedoch aus der islamischen Gottesvorstellung ethisch-moralische Konsequenzen
abgeleitet werden sollen, dann nicht nur - wie üblich - über die Ablehnung des
Götzendienstes (d.h. des Verfalls an Konsumgüter, Nationalismen, Staatsanbetung etc.),
sondern auf ontologischem Wege: Mit Muhammad Iqbal kann aus dem islamischen
Gottesbild bzw. aus Naturbeobachtung auf die unendlich vielfältige, grenzenlos
einzigartige Individualität allen Seins (des Kosmos, Gottes) hingewiesen werden.
Der Mensch befindet sich vor diesem Hintergrund dann in höchstmöglicher Übereinstimmung
mit dem Sein, wenn auch er sein Potential zur Individuierung weitestgehend realisiert. Ein
solches Verhalten ist - im Gegensatz zum Renaissance-Modell - zugleich Grundlage einer
islamischen Soziallehre im Einklang mit der Scharia; denn die Wertschätzung der
individuellen Verwirklichung schließt prinzipiell die Wertschätzung und damit
Respektierung der Individualität des Mitmenschen ein.
So egalitär-demokratisch, kosmopolitisch und gerechtigkeitsstaatlich der Islam auf
qur'anischer Grundlage ist: in seinem Akzent auf die Würde des Individuums, also seiner
Kollektivfeindlichkeit (trotz des Erlebnisses der Umma), liegt seine Chance, zwischen
westlicher Libertinage und östlichem Totalitarismus eine nicht nur visionäre Option
zu bieten.
@ Ekrem Yolcu |