Abraham, Hagar und Sarah |
Mancher jüdische und christliche Leser, der sich zum
erstenmal mit dem Qur'an befaßt, ist überrascht, wenn er in dem zunächst doch ziemlich
fremden Buch vertraute Gestalten entdeckt, darunter Abraham. Beim Weiterlesen wird er
bekannte Geschichten finden, womöglich aber auch bislang unbekannte bzw. Abweichungen von
bisher gewohnten Details und Schwerpunkten. Er wird dann vielleicht feststellen, daß im
Qur'an meist nur einzelne Episoden angeführt werden, um bestimmte theologische oder
ethische Aussagen zu veranschaulichen, und oft bleibt es auch nur bei einem knappen
Hinweis auf eine als bekannt vorausgesetzte Geschichte. Viele Leser und sogar Fachleute
erliegen dann der Versuchung, diese Andeutungen als Hinweise auf die biblische Erzählung
zu verstehen, zumal biblische Geschichten ja im Qur'an ausdrücklich als
Offenbarungsschriften erwähnt werden, wobei allerdings die Frage nach den Abweichungen
offenbleibt, und oft genug wird übersehen, daß es ja auch schon im Zusammenhang mit der
Bibel mündliche Überlieferungen gibt, die darüber hinausgehen und bislang noch nicht
eingehend erforscht worden sind. Nach Abraham verfolgt die Bibel dann die
Familiengeschichte über Isaak, Jakob (Israel) und die zwölf Stämme der Kinder Israel
mit ihren spezifischen religiösen Erfahrungen, die die Wurzel zweier Weltreligionen
bilden und auch für den Islam wichtig sind. Interessant wird es nun, wenn man auch die
Überlieferungen anderer Völker untersucht, die ihre Abstammung auf Abraham
zurückführen, und zwar über Hagar und Ismail sowie über seine dritte Frau Qeturah und
ihre Söhne. Dabei handelt es sich um Völker und Stämme der arabischen Halbinsel, deren
Kultur bis zum Auftreten des Propheten Muhammad (s) weitgehend schriftlos war, die aber
trotzdem und trotz einer ganz anderen religiösen Entwicklung in Erzählungen und Ritualen
ihre Version der Geschichte ihrer Vorfahren bewahrten (am Rande sei vielleicht zu
ergänzen, daß es hier auch Stämme gibt, die ihre Abstammung auf eine vierte Frau
Abrahams namens Sabah zurückführen, woraus man den Namen jenes südarabischen Landes
herleitet, dessen Königin dann mit Salomo in Verbindung stand). Wenn also der Qur'an die
Geschichte als bekannt voraussetzt, dann vor allem auch aus der arabischen Überlieferung.
Ich möchte im folgenden versuchen, die Geschichte aus diesem Blickwinkel nachzuzeichnen.
Die Qur'anische Darstellung beginnt mit Abrahams Suche nach Gott mitten in einem Umfeld, wo man Himmelskörper und allerlei andere Gottheiten verehrte:
Es kommt also zum Konflikt, in dessen Verlauf Abraham beschließt, den Götzendienern eine anschauliche Lehre zu erteilen, um sie zum Nachdenken zu bringen:
Abraham verläßt also zusammen mit seiner Frau Sarah und seinem Neffen Lot seine Heimat und seinen Vater, für den er dennoch um Vergebung bittet und dem er Frieden wünscht. Es gibt mehrere arabische Berichte von seinen Reisen, wobei er interessanterweise auch auf der westarabischen Karawanenstraße gereist sei soll, zumindest bis in den Südhijaz oder sogar Yemen. Berichtet wird auch von einem Ägyptenaufenthalt einschließlich der Episode, wo der König Sarah, die er für Abrahams Schwester hält, für sich haben will, aber auf wunderbare Weise zurückgehalten wird und den wahren Sachverhalt erkennt. Als Ausgleich für die Beleidigung schenkt er Sarah eine Sklavin. Bei diesem Mädchen soll es sich um eine Prinzessin gehandelt haben, die von Abrahams und Sarahs Glauben an den Einen Gott tief berührt war und sich freiwillig zur Verfügung stellte, um auf diese Weise mit ihnen das Land verlassen zu können. Auf eine solche Auswanderung weist auch der Name Hagar ("Emigrantin") hin, unter dem sie schließlich bekannt wird. Im Laufe der Zeit, möglicherweise im Zusammenhang damit, daß Sarahs Kinderwunsch unerfüllt bleibt, wird Hagar Abrahams zweite Frau und Mutter seines ersten Sohnes Ismail. In diesem Zusammenhang stehen Teile der rituellen Praxis, die im Islam einen zentralen Stellenwert haben. Abraham läßt nämlich Hagar und Ismail, der noch ein Kleinkind ist, einmal unterwegs in einem öden Tal an der Hijaz-Straße zurück. Verschiedene Gründe für diese Reise werden in den Überlieferungen erwähnt, aber als Hauptgrund wird ein Gebot Gottes angegeben, das Abraham vertrauensvoll befolgt. Als das Kind durstig wird, beginnt Hagar, besorgt und unter Gebeten um Hilfe zwischen zwei Hügeln hin- und herzulaufen, um Ausschau nach Anzeichen für Wasser oder die Anwesenheit von Menschen zu halten. Schließlich findet sie da, wo das Kind mit den Füßen gestrampelt hat, eine Quelle, und ein Engel spricht ihr Trost und Verheißung zu. Nach Abrahams Rückkehr wird der Ort, an dem Gottes Hilfe so greifbar erfahren wurde, mit einem schwarzen Stein markiert, und zur Erinnerung wird immer wieder die Geschichte erzählt, wenn man an dieser Stelle Rast macht bzw. später, als sich um die Quelle herum eine Ansiedlung gebildet hat, wenn Reisende ankommen. Eine Ansiedlung wird sich sicherlich bald im Zusammenhang damit gebildet haben, daß Hagar und Ismail sich dort niederlassen, und gleichzeitig wird der Ort auch als heilige Stätte empfunden. Darauf bezieht sich ein langes Gebet Abrahams im Qur'an:
Der Lauf zwischen den Hügeln Safa' und Marwa, der ein Grundbestandteil des Pilgerfahrtsrituals ist, vergegenwärtigt die Erfahrung der Mutter Hagar, die voller Sorge und doch im Vertrauen auf Gott hin- und herläuft, um in der Ferne nach Hilfe zu suchen, die sie dann so nahe bei sich selber findet. Alle Männer und Frauen, die bis heute die Pilgerfahrt nach Mekka durchführen, schlüpfen vorübergehend in die Rolle ihrer geistigen Ahnherrin und erfahren, wie sie im Leben hin- und herlaufen auf der Suche nach dem, was sie hält und trägt, während Gott doch immer bei ihnen ist; danach erfrischen sie sich mit Wasser aus der Quelle Zamzam, die heute Wasser für Millionen von Pilgern liefert. Die Geschichte und das Ritual waren schon zur Zeit des Propheten Muhammad (s) ein so selbstverständlicher Bestandteil des Lebens in Mekka, daß der Qur'an nicht noch einmal ausführlich darauf eingeht. Ebenso selbstverständlich ist auch der auf Abraham und Ismail zurückgeführte Brauch der Beschneidung der Knaben, die dann unter allen Nachfahren Abrahams üblich war und bis heute ist. Hygienische und rituelle Gesichtspunkte sind dabei - zumindest aus islamischer Sicht - eng miteinander verknüpft. Die Pilgerfahrtsriten beziehen sich aber auch noch auf andere Teile der Abrahamsgeschichte, die in der arabischen Überlieferung geographisch mit diesem Ort verbunden ist. Als ein Mensch, der mit reinem Herzen ganz in Gottes Gegenwart lebt, gilt Abraham als Khalîl Allah, Freund Gottes, und beweist dies durch sein uneingeschränktes Vertrauen bei allen Prüfungen des Lebens, von denen eine für Muslime eine ganz besondere Bedeutung hat:
Auf diese Erfahrung bezieht sich das Opferfest als größtes islamisches Fest. Wer es sich leisten kann, schlachtet nach einem gemeinsamen Festgottesdienst am Morgen ein Schaf (oder zu mehreren ein größeres Tier, z.B. ein Rind) und verteilt das Fleisch: ein Drittel an die Armen, die auf diese Weise am Fest teilhaben und wenigstens einmal im Jahr Fleisch essen können, ein Drittel an Freunde und Nachbarn und ein Drittel an die Familienangehörigen. Bei der Predigt an diesem Morgen geht es gewöhnlich um den Sinn des Opferns. Ein Aspekt ist der, sich von etwas zu lösen, woran man hängt. Das ist aber aus islamischer Sicht nur dann sinnvoll, wenn es anderen zugutekommt (wie das Fleisch, das man mit anderen teilt). Opferbereitschaft wird auch geprüft: Abraham steht sozusagen vor der Frage, ob er Gott mehr liebt als sich selbst, verkörpert in seinem Sohn, eine Frage, der sich schon mancher Mensch gegenübergestellt gefühlt hat. Aber Gott verlangt kein Menschenopfer, wie es bisweilen von Menschen gemachte Götzen (durchaus auch moderne Götzen wie z.B. der Konsum, der technische Fortschritt oder gewisse 'ismen) fordern, und auch keine Selbstaufgabe. Islâm bedeutet nicht Selbstzerstörung, sondern Hingabe an Gott, Übereinstimmung mit Gottes Willen, der den Menschen als Geschöpf bejaht, eine Hingabe, die Salâm - Frieden - bewirkt. Das Opferfest ist ein Fest der Freude und Dankbarkeit. Auch bei persönlichen Anlässen zu besonderer Freude und Dankbarkeit, etwa der Geburt eines Kindes, einer bestandenen Prüfung, der Genesung von einer schweren Krankheit u.dgl. schlachtet man, wenn man es sich leisten kann, ein Schaf und verteilt das Fleisch, oft auch in Verbindung mit einem großen Festessen. Heute macht man allerdings auch oft von der Möglichkeit Gebrauch, das dafür bestimmte Geld dort zur Verfügung zu stellen, wo Not herrscht. Das Opferfest ist auch Grundbestandteil der Großen Pilgerfahrt (Hajj). Die organisatorischen Probleme im Zusammenhang mit der großen Anzahl von Pilgern, die ein Opfertier schlachten, und der relativ geringen Anzahl der Armen vor Ort werden heute u.a. dadurch gelöst, daß man das Fleisch konserviert und dorthin transportiert, wo Menschen Mangel leiden. In Verbindung mit dieser Geschichte gibt es noch eine Überlieferung, die auch in einem Pilgerfahrtsritus nachempfunden wird. Als demnach Abraham und sein Sohn unterwegs zur Opferstätte waren, kam der Teufel und wollte ihnen ihr Vorhaben ausreden, und sie vertrieben ihn mit Steinwürfen. Die drei Stellen, von denen dies berichtet wird, sind heute durch Säulen markiert, die von den Pilgern symbolisch gesteinigt werden, als Ausdruck für den fortwährenden Kampf gegen den Inneren Schweinehund, den jeder Mensch auszufechten hat. Durch die letzten Sätze des auf das Opfer bezogenen Textes und die Tatsache, daß die Geschichte gerade im Zusammenhang mit der Pilgerfahrt nach Mekka steht, werden sicher Fragen ausgelöst. Und in der Tat ist nach der arabischen Überlieferung Ismail der Sohn, von dem hier die Rede ist. Allerdings ist es interessant festzustellen, daß der Name des Sohnes in dieser Geschichte im Qur'an gar nicht erwähnt wird. Man kann daraus schließen, daß es zwar für die Nachfahren der beiden Brüder natürlich ist, ihren jeweils eigenen Vorfahren in dieser Rolle sehen zu wollen, aber dies ist weder zum Verständnis der Geschichte als existenzieller menschlicher Erfahrung wesentlich nioch sollte es gar ein Streitgrund sein. Im ursprünglichen islamischen Denken gibt es keinen Ausschließlichkeitsanspruch. Sowohl Ismail als auch Isaak werden als prophetische Gestalten erwähnt, und auch Jakob, Joseph und seine Brüder, die Stämme der Kinder Israel, Mose und Aaron usw. werden ausdrücklich als Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen angeführt. Der Qur'an folgt aber nicht einer einzigen Erfahrungstradition, sondern konzentriert sich auf die Einheit Gottes hinter der Vielfalt der Menschheit und auf das prophetische Element, das zweifellos bei Isaak, Jakob und einigen ihrer Kinder und Nachfahren bis hin zu Zacharias, Johannes und Jesus vorhanden ist, aber auch in anderen Familienzweigen, aus denen nichtbiblische Propheten wie Hud und Saleh stammen und zuletzt schließlich Muhammad (s), sowie in allen anderen Völkern, deren Propheten der Qur'an anerkennt. Der Qur'an bestätigt die besondere historische Rolle der Kinder Israel als Modell für die Nachbarvölker, weist aber gleichzeitig auf Gottes Fürsorge für jede Nation und Generation der Menschheit hin, die sich u.a. in den Lehrern und Gesandten manifestiert, die Er unter ihnen erweckt hat. Umgekehrt kommt es aber auch bei einer biologischen Abstammung von Abraham darauf an, daß sich der Einzelne in seinem Leben bewährt, indem er dem Einen Gott die Treue hält und seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen gegenüber ein ethisches Verhalten an den Tag legt. Der Qur'an betont immer wieder die unmittelbare persönliche Verantwortung des Menschen, die eng mit seiner Würde verknüpft ist und u.U. eine engere Beziehung begründen kann als die rein physische Familienbeziehung. In den qur'anischen Gebeten Abrahams wird immer wieder deutlich, wie sehr ihm an einer solchen inneren Verwandtschaft gelegen ist:
Ich möchte hier an die Bibel erinnern, wo Abgötterei und Abkehr von Gottes Geboten als Bundesbruch seitens der Menschen behandelt und von den Propheten immer wieder getadelt werden, wobei allerdings auch immer die Möglichkeit zu Umkehr und Vergebung offenbleibt. Abgötterei und soziale Ungerechtigkeit sind auch genau die Hauptkritikpunkte des Qur'an an den vorislamischen Arabern (mit Ausnahme derer, die sich dem Judentum oder Christentum zugewandt hatten oder im Gedenken an den Glauben ihres Stammvaters Abraham eigene Wege zu dem Einen suchten - die Hanifen). Abrahams Freundschaft mit Gott zeigt sich nach außen in seiner Mitmenschlichkeit, nach innen in seiner Vertrautheit mit Gott:
Die Geschichte von den Gästen, denen Abraham umgehend ein gebratenes Kalb serviert, findet ihr Echo in unzähligen Überlieferungen und Volkserzählungen von seiner sprichwörtlichen Gastfreundschaft. Gastfreundschaft und Freigebigkeit gehörten seit jener zu den höchsten Werten der Araber und erhielten durch den Islam einen neuen Akzent. Es ist gerade die Nähe zu Gott, die Grundlage zu Dankbarkeit, Freude und damit zu Großzügigkeit ist. Dankbarkeit für das, was wir als Gottes Gaben erfahren, ist im Qur'an eins der Hauptmotive, Gott zu dienen, und eine ganz wichtige Station auf dem mystischen Weg der Selbsterziehung, der von Umkehr und Geduld über Dankbarkeit und andere Stationen zur Gottesliebe führt. Hier ist die Nähe und Vertrautheit aber auch schon so groß, daß Abraham, nachdem ihm Gottes Absichten nicht mehr fremd sind, seine Furcht - durchaus auch im Sinne von Ehrfurcht oder Furcht, sich vom Freund zu entfernen, zu entfremden oder Ihn zu ärgern - überwindet und mit Gott debattiert, mit Ihm regelrecht über das Schicksal der "lasterhaften Städte" verhandelt, obwohl das Maß voll ist und die Betroffenen überhaupt nicht daran interessiert sind. Eine ähnliche Nähe und Vertrautheit ist auch zu spüren, wenn Sarah über die Ankündigung, die zunächst zu schön ist um wahr zu sein, ganz einfach lacht, so wie man über den Witz eines guten Freundes lacht, nur daß es hier Gottes ernste Absicht ist, ihr trotz ihres Alters den ersehnten Sohn zu schenken, noch dazu mit einem Ausblick auf spätere Generationen. Und so werden Sarah und Hagar auf verschiedene Weise Zeuginnen dafür, daß Gott in der Ausweglosigkeit neue Wege zeigt und Möglichkeiten eröffnet, die verschlossen schienen. Schließlich bezieht sich der Qur'an auf den Bau der Ka'ba als erstes Gebetshaus der Menschheit, das dem Einen Gott geweiht ist. Als schlichtes Gebäude, das innen leer ist, wird sie als Symbol für das menschliche Herz gesehen, zum einen deswegen, weil sie das Herzstück der islamischen Welt bildet, um das sich die Gemeinschaft der Muslime beim Gebet sozusagen im Kreis anordnet, zum anderen, weil sie innen leer ist, d.h. frei von Götzen, so wie das Herz des Menschen leer sein sollte, um "Haus Gottes" werden zu können. Zu den grundlegenden Riten der Pilgerfahrt gehört auch, daß man die Ka'ba umschreitet und sich bewußt wird, daß nicht das eigene Ich im Mittelpunkt steht, sondern Gott, mit dem wir in unseren Herzen verbunden sind, und daß wir Teil einer vielfältigen Menschheit sind, die Wege in Seiner Gegenwart sucht.
Der Schwarze Stein, der den Ort gekennzeichnet hatte, an dem Hagars Gebet erhört und ihr und Ismail eine Lebensgrundlage gegeben wurde, wurde in eine Ecke der Ka'ba eingebaut, und wenn ihn die Pilger heute berühren und küssen, dann ist dies über die Zeiten hinweg eine Berührung mit allen Menschen, die ihn berührt haben, bis hin zu Abraham, Hagar und Ismail. Die Umschreitung der Ka'ba wird abgeschlossen mit einem Gebet an der Stelle, wo Abraham stand und betete. Der Standplatz Abrahams ist aber darüberhinaus eine innere Haltung des Herzens, aus der heraus wir unsere Gebete vor Gott bringen sollen. Schon zuvor haben wir gesehen, wie sehr Abraham daran liegt, auch seine Nachfahren in seine enge Herzensbeziehung zu Gott einzubeziehen. Gott ergeben heißt auf Arabisch muslim, und dies ist genau das Wort, das im Originaltext benutzt wird, wenn es heißt: "Mache uns beide Dir ergeben, und mache aus unseren Nachkommen (wörtlich: "unserer beider Nachkommen" im Dual) eine Gemeinschaft, die Dir ergeben ist." Islâm ist nämlich in seiner Grundbedeutung eine innere Haltung, unabhängig von der formalen Religionszugehörigkeit, eine Anlage, die den Menschen (und übrigens auch andere Geschöpfe) treibt, in Harmonie mit Gott und Seiner Schöpfung zu leben, die der Mensch aber oft aus egoistischen Beweggründen verdrängt. Die Lehren der Religionen zeigen nun - aus islamischer Sicht betrachtet - Wege auf, diesen Egoismus zu überwinden und sich mit Gott zu versöhnen. Der Qur'an bestätigt ausdrücklich, daß die Lehren anderer Religionen - speziell die der abrahamitischen Tradition, die sich in der Bibel niedergeschlagen haben - ihren Ursprung in einer echten göttlichen Offenbarung und bei einem echten prophetischen Lehrer haben, u.a. auch Mose und Jesus, die neben Noah, Abraham und Muhammad zu den wichtigsten Gesandten Gottes gehören. Die kritischen Aussagen im Qur'an zu bestimmten Punkten in Lehre und Verhalten innerhalb der jüdischen und christlichen Gemeinschaften entsprechen im großen und ganzen der Kritik der biblischen Propheten, vor allem in bezug auf Abgötterei und soziale Ungerechtigkeit, während die Gemeinschaften selbst anerkannt und ausdrücklich zu Dialog und konstruktiver Zusammenarbeit eingeladen werden, wobei sie für ihre eigenen Angelegeheiten auf der Grundlage ihrer jeweils eigenen offenbarten Werte verantwortlich sind. Darüberhinaus gilt die Kritik auch als Spiegel für die muslimische Gemeinschaft. Wenn Abraham und Ismail hier Gott um einen prophetischen Lehrer für ihre Nachfahren bitten, dann kann dies im Nachhinein auch auf den Propheten Muhammad (s) bezogen werden, der unter den Kindern Ismail im Stamm der Quraish berufen wurde, den religiösen und soziopolitischen Mißständen seiner Zeit entgegenzutreten und die Menschen wieder an den Einen Gott zu erinnern, angefangen mit seiner Heimatstadt Mekka, aber mit einer weiteren Perspektive. Sein Anliegen war sicherlich nicht die Begründung einer neuen Religionsgemeinschaft zusätzlich zu den vielen anderen, deren Uneinigkeit im Qur'an kritisiert wird, sondern eine Besinnung auf das Wesentliche, das die Differenzen überbrücken und ein konstruktives Zusammenleben in der Vielfalt ermöglichen sollte. Wenn wir den Text des Qur'an in seiner chronologischen Anordnung lesen, stellen wir fest, daß dieses Anliegen auch weiterverfolgt wird, nachdem in Medina deutlich geworden ist, daß sich die Gemeinschaft des Propheten (s) doch als eigenständige religiöse Gemeinschaft organisieren und behaupten muß, und nachdem es auch schon kaum überbrückbare Konflikte mit den jüdischen Stämmen der Stadt und eindeutige Drohungen seitens der christlichen byzantinigschen Truppen gegeben hat. Die Grundidee des Zusammenlebens in der Vielfalt, bei dem die Verschiedenheiten zu einem konstruktiven Wettstreit genutzt werden, hat trotz aller Spannungen und Konflikte immer wieder ermöglicht, daß im Einflußbereich des Islam jüdische und christliche Gruppierungen ihr religiöses, soziales und kulturelles Leben entfalten konnten (erst in jüngster Zeit scheint diese Grundidee stellenweise in den Hintergrund gedrängt zu werden, damit aber auch ein wichtiger Aspekt der islamischen Botschaft). In diesem Zusammenhang bekommen die Erfahrungen Abrahams und seiner Angehörigen im Qur'an wieder neues Gewicht, um über die bestehenden Differenzen hinauszuweisen auf die Haltung, auf die es ankommt:
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