Tschetschenien und der OSZE-Gipfel
Die Delegation der Tschetschenen kam auf dem Istanbuler Gipfel nicht zu Wort

Am 18. und 19. November trafen sich die Regierungsoberhäupter der 55 Vertragsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Istanbuler Ceyhan-Palast. Mitarbeiter der "Islamischen Zeitung" besuchten das Treffen, um sich über die Situation in Tschetschenien direkt zu informieren.

Die Tagungsordnung des Gipfels behandelte die Neuordnung des Vertrages über Konventionelle Rüstung in Europa (CFE) und die Unterzeichnung einer neuen OSZE-Charta. Wegen der Militärkampagne jedoch, die zur gleichen Zeit in Tschetschenien ablief, war es immer möglich, daß Tschetschenien kurzfristig auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Dies war auch der Fall, jedoch nicht wie die internationale Öffentlichkeit (besonders die Muslime) es sich gewünscht hätte. Nicht, wie die Medienvertreter es sich gewünscht hätten und sicherlich in keinster Weise, die dem Kampf der Tschetschenen, der diskriminierenden Kriegspropaganda gegen sie oder dem Elend der zehntausend Kriegsflüchtlinge in Inguschetien gerecht gewesen wäre. Zu guter Letzt orientierte sich die Tagesordnung auch nicht am erkennbaren Willen der tschetschenischen Regierung, eine Verhandlungslösung zu erzielen und der offenen russischen Weigerung, auf eine solche einzugehen.

Die Tschetschenen wurden durch ihren Außenminister, Ilyas Akhmadow, und den Sondergesandten der tschetschenischen Regieruung in Europa, Salih Brandt, auch Mitglied der Europäischen Islamischen Kommission, vertreten. Außer der "Besorgnis", die von allen anwesenden OSZE-Mitgliedern zum Ausdruck gebracht wurde, wurden die Regeln der Tagesordnung derart angewendet, daß die tschetschenische Delegation von allen Aspekten der Konferenz und des beteiligten Medienzentrums ausgeschlossen wurde. Zugang zu den Konferenzbereichen wurden den Regierungsdelegationen, den anerkannten Nichtregierungsorganisationen und der Presse gewährt. Die tschetschenische Delegation wurde nur als Vertretung einer lokalen Regierung anerkannt und daher hatte Moskau das alleinige Recht, die Tschetschenen zu vertreten. Dies verhinderte ihre Konferenzbeteiligung sowohl als offizielle Regierung als auch als unabhängige Organisation, da sie trickreich als Regierung anerkannt wurde.

Das hatte zur Folge, daß die Delegation Tschetscheniens ohne Stimme blieb und ohne direkten Zugang zu den im Medienzentrum versammelten internationalen Journalisten. Dies erlaubte der Konferenz, im Namen der Tschetschenen einige rhetorische Aussagen machen zu können, während man gleichzeitig sicherstellte, daß die Aufmerksamkeit der Konferenz nie umgeleitet werden konnte und daß diese Rhetorik nie durch Handlung bewiesen werden mußte. Die Führer der Regierungen konnten ihr Gewissen beruhigen, ihre öffentliche Fassade polieren, waren aber geschützt von Handlungen, die den Anweisungen des IWF zuwider gelaufen wären.

Glücklicherweise waren die internationalen Journalisten nicht so naiv, diesen Brocken zu schlucken und es wurde eine große Zahl an Interviews von den Tschetschenen für internationale Medien gegeben, wobei sie die Wirklichkeit moderner Politik aufdecken konnten.

Diese Wirklichkeit sei, so Salih Brandt, daß sich 55 Nationen einschließlich Rußlands trafen. Während 54 Regierungschefs alle einstimmig Rußland verdammten, unternähme keiner der Anwesenden etwas, den Krieg zu beenden. Dies, so Brandt weiter, zeige eindrücklich das Wesen von Politik am Ende des 20. Jahrhunderts. "Es zeigt uns, daß die Politiker keine Macht besitzen, außer dessen, was ihnen durch die Anweisungen des IWF und ähnlicher Finanzorganisationen vorgegeben wird. Im Falle Ost-Timors konnten wir klar und offen erkennen, wie die USA den Geldfluß und die Briten die Lieferung von militärischer Ausrüstung an Djakarta einstellten (etwas, was die britische Öffentlichkeit fünfzehn Jahre erfolglos verlangt hatte und welches einen großen Platz im politischen Programm von Englands Labourpartei einnahm), nachdem diese Forderung vom IWF gestellt wurde. Im vorliegenden Fall wurden keine Weisungen gegeben, um Rußlands Handlungsweise zu beschränken. Eine Tatsache, die durch das Schweigen westlicher Politiker unterstrichen wird. Diese Aussage erhält umso mehr Gewicht durch die Entscheidung des IWF, Rußland weiterhin zu finanzieren." Letzte Woche gab der IWF weitere 700 Millionen US-Dollar für Moskau frei.

Dies führe zu zwei Fragen: was geschah an Wichtigem in Istanbul, das bedeutender war, als das Leben der Tschetschenen und die Aufrechterhaltung der oft verteidigten "Menschenrechte"? Und was geschah international, was den Krieg in Tschetschenien zum Ausbruch brachte und welches die Fordauer russischer Operationen notwendig machte?

Die neue OSZE-Charta, von der man entschlossen war, sie zu unterzeichnen und für die Rußlands Unterschrift notwendig war, behaupte, daß alle Vorfälle militärischer Aktivitäten oder sogenannter "Menschenrechtsverletzungen" - wann und wo immer sie geschehen mögen - in die Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft fallen würden und den Weg für UN und NATO öffnen, zu intervenieren, wenn diese es für angebracht hielten. Dies werde voraussichtlich nur im Einklang mit dem strategischen Interesse des Westens geschehen. Dadurch werde die Souveränität der Nationalstaaten weltweit aufgegeben und die Bühne für die Errichtung eines Weltstaates vorbereitet.
Der CFE-Vertrag begrenze die Menge an Soldaten und Ausrüstung innerhalb der Grenzen der OSZE-Mitgliedsländer und begrenze damit die Fähigkeiten der jeweiligen Regierungen, seine souveränen Rechte wahrzunehmen beim Widerstand gegen militärische Angriffe oder "Interventionen" (zukünftig seitens UN oder NATO). "Beide Ziele", so Brandt, "sind von derartiger Bedeutung für den Westen und den IWF, daß die Tschetschenen geopfert werden können, um sie durchzusetzen. Rußland bricht durch seine Handlungen im Kaukasus beide Verträge (Truppenstärke und Rüstung), aber ihm wurde grünes Licht gegeben, damit es seine Unterschrift gibt. Was in Istanbul geschah, war wie ein Treffen zwischen Nikita Chrustschow und Neville Chamberlaine. Zuerst schlägt Jelzin wegen der Klagen des Westens auf den Tisch und die Welt, "angeführt" durch Clinton, hält ein Papier hoch (in diesem Fall ein Zusatz zur allgemeinen Erklärung der Konferenz, in dem Moskau gebeten wird, eine OSZE-Delegation nach Tschetschenien einreisen zu lassen). Das Papier bestätigt gleichtzeitig Moskaus Propaganda gegen die Muslime Tschetscheniens als Terroristen und bejaht die russische Haltung, dies sei ein interner Konflikt und daß die Integrität der russischen Föderationsgrenzen zu respektieren sei. Es war der schlimmste Fall von 'Appeasement' und wurde wie von Chamberlain 1938, als Sieg verkauft. Dies Frage ist nur: für Wen?"

Global betrachtet sähe das Szenario folgendermaßen aus: Der IWF und die westlichen Länder wollen Rußland schwächen und sicherstellen, daß sie die Kontrolle über die Ölreserven des Kaspischen Raumes erhalten. Die Ölfirmen stünden unter enormen westlichem Druck, den Bau der Baku-Ceyhan Pipeline zu vollenden, obwohl dies die unrentabelste Leitungsführung sei. Obwohl nicht Teil des Treffen, wurden die letzten Vertragsteile dieser Leitung auf dem Istanbuler Gipfel unterzeichnet.

1997 erklärte Madelaine Albright (nach einem Treffen auf Verlangen der CIA): "Die Übernahme der Kontrolle im Kaukasus wird eine unserer aufregendsten Aufgaben." Im März 1999 wurde die Pipeline von Baku über Georgien zum Schwarzen Meer eröffnet. Um die Preise auf dem Weltmarkt stabil zu halten, mußten die Erdölfirmen die Produktion in anderen Regionen drosseln. Die Tschetschenen schlossen die durch Grozny führenden Leitungen Ende März. Die Russen begannen daraufhin den Erdöltransport per LKW durch Daghestan umzulegen und umgingen damit Tschetschenien.

An diesem Punkt hätten Gruppen der Wahabis mit ernsthaften Operationen zur Destabilisierung von Daghestan begonnen, um die Russen daran zu hindern, durch die steigenden Preise Mehreinnahmen zu erzielen und um zu verhindern, daß die Preise zu sehr sinken würden. Dies sei, so Salih Brandt, im Auftrage westlicher Ölfirmen geschehen und ließe sich mittlerweile deutlich belegen. Es wäre ebenfalls denkbar, daß es den Russen erlaubt hätte, einen Mehrgewinn zu erwirtschaften, den sie bräuchten, um einen Krieg zu führen. Einer der Gründe, die jetzt vom IWF gegen die Unterbrechung von Kreditzahlungen angegeben werde, sei, daß Rußland durch seine Ölverkäufe derart große Summen erwirtschafte, daß internationale Kreditmittel keine Rolle mehr spielen würden. Seit Anfang März habe sich der Ölpreis beinahe verdoppelt. Das Ziel scheine die Schaffung eines solchen Chaos im Nordkaukasus zu sein, damit es für lange Zeit undenkbar sei, dort eine Pipeline zu errichten. Baku-Ceyhan würde dann die einzige zuverlässige Leitung sein, die sich außerdem noch völlig unter westlicher Kontrolle befände.

Währenddessen haben westliche Regierungen angemerkt (allen voran die der USA, Großbritanniens und Deutschlands), daß sie enorme Summen an in Rußland investiertem Geld (insgesamt mehr als 80 Mrd. DM, zumeist staatliche Mittel der Steuerzahler) verlieren würden, wenn im Falle Rußlands ihre "nach ethischen Aspekten ausgerichtete Außenpolitik" greifen würde. Clinton, Blair und Fischer, die so überzeugend während der Operationen der NATO agierten, seien nun auf heuchlerische Weise schweigsam.

"Keine Regierungsdelegation", so Brandt, "wollte sich mit uns treffen; mit Ausnahme Norwegens und Finnlands am Ende des Gipfels. Robin Cook und Joschka Fischer sagten beide, sie seien zu beschäftigt. Ich sprach am Dienstag um 10.00 Uhr mit der persönlichen Mitarbeiterin von Mrs. Albright und erklärte ihr, der tschetschenische Außenminister wäre in Istanbul und schlug vor, dies sei eine gute Gelegenheit, sich zu treffen. Sie stimmte mir zu und wollte mit Frau Albright sprechen. Zehn Minuten später rief sie zurück und teilte uns mit, Frau Albright ließe uns ausrichten, sie hätte keine Zeit. Am Abend gab sie ein Interview auf CNN und wurde nach einem Treffen mit den Tschetschenen gefragt. Ihre - live gesendete - Antwort war, daß sie dies liebend gern getan hätte, man aber unglücklicherweise nicht wisse, wo die Tschetschenen seien."

Dies sei die Ebene, auf der sich die Politiker bewegten. "Es ist keine Doppelzüngigkeit, wie man den Leuten einzureden versucht. Es ist die Abwesenheit von Grundsätzen als solche. Diese Leute haben weder Macht noch moralische Aufrichtigkeit. Es gibt nur eine Konstante: der wirtschaftliche Maßstab, 'Was im wirtschaftlichen Interesse ist' wird erfüllt und die Rhetorik wird dem angepaßt, um ihn zu rechtfertigen, selbst wenn es den Tod tausender Zivilisten einschließt. Aber Allah hat die Macht und Er ist der Beste Planer. Der Sieg ist, daß die Wahrheit nun zu Tage kommt."

Quelle: Islamische Zeitung, 34. Ausgabe

@ Ekrem Yolcu

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