Essay: Was ist der europäische Islam?

Über Debatte und Substanz eines Begriffs - Von Abu Bakr Rieger

Nach den Attentaten am 11. September hat in Europa eine kritische - leider oft genug auch polemische Auseinandersetzung über den Islam begonnen. Die Medien Europas haben in einer bisher unbekannten Intensität über den Islam und die Muslime berichtet. In vielen Beiträgen scheint aber eher die Absicht des Autors als eine vorurteilsfreie Betrachtung des Islam durch. Hinzu kommen die abstrusen Wortmeldungen Usama Bin Ladins, die zwar auf einschlägige „islamische“ Rhetorik setzen und den Islam in der Öffentlichkeit nicht unwesentlich besetzen, gleichzeitig aber für Muslime ohne jede verbindliche theologische Substanz sind. Dennoch könnte damit der fatale Eindruck im Westen verstärkt werden, der verbrecherische Bin Ladin könnte etwa eine Art geheimes Sprachrohr oder eine geistige Instanz der Muslime sein. Nicht immer findet hierbei ausreichend Beachtung, dass bei über einer Milliarde Muslime die Quote der Bin Ladin - Anhänger ganz offensichtlich verschwindend klein ist.

Fakt ist, es gab zu keinem Zeitpunkt in der islamischen Welt eine Bin Ladin - Welle. Paradoxerweise scheint sich der selbsternannte „Rächer der Palästinenser“ in islamischen Fragen auch nicht so recht auszukennen, sonst wäre ihm der mangelnde Rückhalt ein mahnendes Indiz, dass er zum Ausruf des vielbesungenen Dschihad nach islamischem Recht nie berechtigt war. Unsäglich bleibt auch die arrogante Ignoranz angesichts tausender Opfer in Afghanistan, die der unselige Gast für das Land mitverursacht hat.

De facto stehen der saudische Ex-Millionär und seine geistige Gefolgschaft nun eher für den traurigen Niedergang der islamischen Lehre - und leiten das Ende der jahrzehntelangen unbefragten Vorherrschaft des „arabischen“ Islam ein. Zu offensichtlich hat die bisher arabisch dominierte Lehre nach einem Jahrhundert der ideologischen und geistigen Einfälle - vom Kommunismus über den Nationalismus bis hin zum Kapitalismus - die Übersicht verloren. So ist Bin Ladin natürlich auch ein typisches Kind derjenigen modernen arabischen Ideologie, die im Palästinenserkonflikt sozusagen die letzte Schicksalfrage aller Muslime zu glauben sieht. Die finale Forderung Bin Ladins nach einem „Kleinstaat Palästina“ - für den er bereit ist, tausende Amerikaner und hunderte Muslime zu ermorden, ist von einer zugegebenermaßen erschütternden und einmaligen Banalität.

So ist die Frage nach einem „europäischen Islam“ nicht zuletzt auch gebunden an eine notwendige Abkoppelung bisher unbefragter arabischer Vorherrschaft in theologischen Fragen. Die Beherrschung der arabischen Sprache und ein orthodoxes Äußeres war zu lange ein Indiz, es mit einem Gelehrten zu tun zu haben. Offensichtlich begnadet die arabische Herkunft nicht zur Lehre, offensichtlich schützt der originäre Zugang zur arabischen Sprache nicht vor Verirrung. Man vermisst tatsächlich bis heute einen Aufschrei der lange Zeit arabisch dominierten islamischen Lehre über die Doktrin der al-Qaida, aber auch eine Klarstellung über die wahre ‘Aqida und ihre Inhalte. Besonders fatal ist die mangelnde kritische Auseinandersetzung der islamischen Lehre mit dem Phänomen des orthodoxen Wahabismus und mit den nihilistischen Selbstmordattentaten, die den grundsätzlich legitimen Charakter islamischer Selbstverteidigung pervertiert haben. Hierbei geht es nicht um die moralische Frage, ob ein Wahabi auch „nett“ sein kann, oder ob ein „Selbstmordattentat“ verständlich ist, sondern allein um Verbindlichkeit und Kern islamischer Glaubensregeln. Beide genannten Phänomene haben den Islam gerade in Europa tief diskreditiert.

Dies hat natürlich mit dem profanen Umstand zu tun, dass ein guter Teil der weltweit aktiven muslimischen Lehrerschaft schlicht am arabischen Tropf hängt. Das sprichwärtliche „wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing“ gehört zu den überkulturellen Einsichten in diesen Dingen.

Natürlich ist und war der Blickwinkel europäischer Muslime ein Besonderer. Schon weit vor dem 11. September ist der wahabistische Islam in Bosnien und ganz Südosteuropa gescheitert, denn natürlich waren vor allem die muslimischen Europäerinnen für den Islam wahabistischer Lesart und zu der Pervertierung der Sunnah des Propheten nie zu gewinnen. So gehören heute die bosnischen Moscheen in der Welt zu den Orten, wo Frauen nicht nur Zugang haben, sondern auch das Klima mitprägen. Natürlich ist auch die wesentliche und tragische Veränderung des 2. Tschetschenienkriegs durch wahabitische Söldner und Selbstmordattentäter dem islamischen Europa nicht entgangen. Vor allem aber ist dem europäischen Islam und Intellekt nicht verborgen geblieben, dass der Wahabismus eine extreme und radikale Geisteshaltung in Frauenfragen und äußerer Moral darstellt - aber in Wirtschaftsfragen wiederum äußerst amoralisch, man könnte auch sagen skrupellos - daherkommt. Hier liegt natürlich auch bis zu den späten 90er Jahren die Wurzel der merkwürdigen Allianz amerikanischer Erdölgiganten mit den Taliban. Warum konnte die arabische Lehre, gelähmt von der bedeutungslosen Doktrin allgemeiner und immerwährender Brüderschaft - die ja über Jahrhunderte von brillianten Theologen geprägt war - uns nicht vor diesen Verwirrungen schützenä

Will man die etwaige Berechtigung eines europäischen Islam weiter vertiefen, so wird man zunächst feststellen, dass der Beitrag europäischer Muslime von einem spezifischen Wissens- und Erfahrungshorizont begleitet ist. Natürlich sind europäischen Muslimen die Religionskriege, die Schiller so meisterhaft beschreibt, die Aufklärung und ihre immanente Relativierung der Wahrheit, die Staats- und Verfassungsgeschichte, die Ideologien Hitlers und Stalins und das Ereignis der Technik nicht entgangen. Natürlich haben Muslime in Europa in einer funktionierenden Wohlstandsgesellschaft und in einer durch Freiheitsrechte gekennzeichneten Demokratie andere persönliche Erfahrungen hinter sich wie ein Muslim, der in Kaschmir oder Palästina aufgewachsen ist.

Europäische Muslime haben aber auch die Greuel von Srebrenica und den Genozid an über 200.000 gläubigen Bosniern betrauert und erduldet. Das Bild des angeblich agressiven Islam ist angesichts muslimischer Opfer für den europäischen Islam insofern - weiä Gott -unhaltbar. Dennoch haben diese schmerzlichen europäischen Erfahrungen nicht zu einer vergleichbaren politischen Radikalisierung der europäischen Muslime geführt - wohl auch deswegen, weil aus der Sicht Europas heraus die alten und archaischen Freund-Feind Konstellationen intellektuell untragbar geworden sind.

Eine wichtige Einsicht: Wer an was Schuld hat oder wer für was kausal war, die personale Bestimmung des Feindes also, lässt sich in der heutigen Zeit nicht mehr so einfach beantworten. Die „Achse des Bösen“ lässt sich aus muslimischer Sicht eben nicht an Nationen knüpfen. Ein Wandel der alten Feindbilder ist für den europäischen Islam essentiell, genauso wichtig wie die Wachsamkeit, nicht wieder zum „Sündenbock“ oder zum angeblichen inneren „Feind“ der europäischen Gesellschaften zu werden.

Um auf den Punkt zu kommen: es scheint, dass der europäische Islam im Gegensatz zu anderen Weltgegenden sich gerade durch ein geläutertes Verhältnis zur Politik - und damit zur Nation und zur Souveränität kennzeichnet. Nationales Bewusstsein hat heute in Europa paradoxerweise einen weitaus geringeren Stellenwert, als in der restlichen islamischen Welt. So ist - entgegen der inneren Intention des Islam - nationale Souveränität immer noch das antiquierte Ideal von Millionen Muslimen. Demzufolge streitet der „politische Islam“ und der „Islamismus“ noch mit Vorliebe für Nationalstaaten, die wiederum in ihrer verfassungsrechtlichen Realität einfache Kopien der westlichen Vorbilder sind. Sind diese Staaten tatsächlich etabliert, sinkt die Bedeutung des Islam recht schnell auf eine rigide Staatsmoral herab.

In der Alltäglichkeit stellt sich ein moderner Islamist seinen „islamischen Staat“ als eine Art kapitalistische Schweiz mit strikter Sexualmoral und Alkoholverbot vor. Ganz nach der Clausewitzschen Logik ist aber Krieg und Terror der immer mägliche Abgrund des auf das Politische reduzierten Islam, insbesondere wenn die politischen Ziele eben nicht erreichbar oder gar aktiv verhindert werden. Die islamistische Partei, Träger seiner Hoffnungen, wiederum gibt in einer recht weltlichen Logik vor (ohne es zu wissen ganz Nietzsche), dass durch die Bündelung des Willens ihrer Mitglieder die politischen Ziele umgesetzt und „gemacht“ werden können. Dass Macht „organisierter Wille“ ist - für einen geschichtsbewussten Europäer eine gefährliche These. Die Frage stellt sich daher auch den Muslimen - welche nationale oder hyperislamische Partei programmatisch oder inhaltlich das humane Desaster des digitalen und globalen Kapitalismus eigentlich reformieren könnteä

Was man in Europa weiß, ist, dass die postmoderne Welt komplizierter und die Möglichkeiten menschlicher Souveränität weiß Gott geringer geworden. Merkwürdigerweise sind eher die Europäer in der Lage zu sehen, dass die Technik, insbesondere die Finanztechnik in der Postmoderne zu einer Art Schicksal aufgewertet worden ist.

Die Krise des europäischen Geistes ist gerade die Erfahrung seiner eigenen politischen Ohnmacht inmitten dynamisch fortschreitender Prozesse der „Sachzwänge“. Der Glaube an die „Macht der Technik“, überhaupt der Glaube an die allgemeine und endlose Machbarkeit des Fortschritts ist heute in der islamischen Welt weiter verbreitet als in Europa selbst. Das Problem des „entfesselten Kapitalismus“ und der damit verbundenen Entpolitisierung der politischen Sphäre wird wohl heute eher in Berlin oder in Paris, als in Dubai oder Kuala Lumpur als bedrohlich erfahren. Die Grünen, Umweltbewusstsein, Datenschutz, Attac oder Globalisierungskritik sind Phänomene, der ein Grossteil der islamischen Welt recht bezuglos gegenübersteht. Geschweige denn wird heute eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus überhaupt durch Muslime definiert. Mit den Worten Martin Heideggers gesprochen: „der eigentliche Wandel beginnt niemals von der Peripherie.“

Stellen wir also zunächst fest: der europäische Islam ist neben seinen besonderen geschichtlichen Erfahrungen geistig dadurch geprägt, dass er zwei fundamentale und faszinierende Erfahrungshorizonte miteinander vereint: europäische Erfahrung und islamische Offenbarung.Wegen dieses Erfahrungsvorsprungs ist der Blickwinkel des europäischen Islam zwischen Offenbarung und geschichtlicher Erfahrung in der islamischen Welt überhaupt relevant. Mit diesem neuen Selbstbewusstsein können sich europäische Muslime auch leicht des Verdachts erwehren, der „europäische Islam“ sei nur eine banale Verwässerung des „wirklichen“ Islam.

Natürlich ist auch in Europa die Gefahr eines politisch extremistischen Islam - zumeist als Ventil frustrierter Massen - nicht von der Hand zu weisen. Die allgemeine Demokratieunfähigkeit des Islam, vor allem des europäischen Islam, davon abzuleiten, geht dennoch gewiss fehl. Im übrigen - auch dies wird ja gerne bei der aktuellen „Islamismus“-Debatte übersehen - birgt bereits die aktuelle reale Entwicklung -ganz ohne Muslime - die Gefahr der schleichenden Entdemokratisierung der westlichen Systeme.

Unsere Väter des Grundgesetzes hatten die totale Herrschaft von Medien, Kapital und Parteien - vor allem aber die Schaffung globaler Konzerne mit dem Machtspielraum alter Nationen kaum vorhersehen können. Diese neue Situation der Globalisierung schafft nun aber eine ungeheure Herausforderung für das demokratische Selbstverständnis. Ein besorgter Verfassungsschützer oder ein V-Mann, der nicht nur über böse Muslime, sondern auch über Aktivitäten von Energieriesen oder Grossbanken berichtet, wäre eine angenehme und zeitgemässe Neuerung.

Die verfassungsrechtlich wirklich brennende Frage, ob und wie man einen globalen entfesselten Kapitalismus und, wie Arundathi Roy formuliert „marodierende Multis“ eigentlich überhaupt noch demokratisch begrenzen kann, wird ja kaum noch gestellt. Ist das neue Feindbild der „Islamisten“ - des neuen inneren Feindes, der die Demokratie gefährdet, bei allem Problembewusstsein nicht auch insoweit ein Ablenkungsmanöverä Gar eine Verschwörungstheorieä Da europäische Muslime auch die Erfahrungen der Opfer dieser Entwicklung von Asien bis Afrika solidarisch teilen, werden sie aber genau diesen Fragen nach der künftigen Legitimität des globalen Kapitalismus substantiell stellen.

Ob die äkonomie ein Schicksal geworden ist, ist eine Frage, die sich Muslime und Nicht-Muslime stellen. Hier scheidet sich auch Glaube und Unglauben. Es ist interessant, dass die Attac - Bewegung, die die ökonomischen Verhältnisse ja brillant schildert und mit der noblen Unbestechlichkeit von Parteilosen analysiert, als pfiffigen Slogan „die Globalisierung ist kein Schicksal“ gewählt hat. Das ist der einzige Punkt, den ich als Muslim nicht unterschreiben könnte - denn die Globalisierung ist - aus meiner Sicht - zweifellos die schicksalhafte Vollendung des europäischen Denkens.

Ernst Jünger hat schon in den frühen 50er-Jahren die unausweichliche Notwendigkeit des Weltstaates vorausgesehen und die Möglichkeiten der politischen Revolte gegen das Aufkommen dieses Gebildes pessimistisch beurteilt. Selbst die extremste Form der Revolte, der Terrorimus, hat das Aufkommen des Weltstaates letztendlich eher beschleunigt als verhindert. Es ist kein Zufall, dass die weltstaatliche Realität dort am frühesten erfahren wird, wo sie gestiftet wurde: in Europa. Die Bedingung der Aufgabe nationaler Empfindung, die Nutzung lokaler Freiheit, aber auch die Notwendigkeit, der kulturellen und sozialen Verödung entgegenzuwirken, könnte Muslime und Nicht-Muslime in „Weltstaatszeiten“ durchaus verbinden.

Islamisches Stfitungswesen, das ja florieren könnte, wenn - salopp gesagt - das Geld im Lande bliebe und islamisches Wirtschaften kännten die Gesellschaft nachdrücklich bereichern. Wo immer der Islam sich im positiven Sinne etablieren konnte, waren es die Stiftungen und freien Märkte, die den eigentlichen Herzschlag der islamischen Zivilisation ausmachten. So gesehen kann das islamische Modell mit und ohne Staat funktionieren.

Bundestagspräsident Thierse hat den Ruf nach einem europäischen Islam mit dem Lernen aus der Aufklärung und dem Gebot der Toleranz verbunden. Das setzt die Vorstellung von einem irrationalen und intoleranten Islam bereits voraus. Dennoch könnte man ja schnell zustimmen: nur, bedeutet Toleranz im aufgeklärten und europäischen Sinne wirklich auch die weitere Tolerierung des furchtbaren Tschetschenienfeldzugesä Hat die deutsche Regierung nicht zur Entwertung dieser hehren Begriffe immer wieder selbst beigetragenä Tolerieren wir Herrn Putin - oder ziehen wir zumindest eine vorsichtige Distanz vorä

Und der vielbesungene europäische Humanismusä Was bedeutet es für den europäischen Humanismus, wenn Günther Grass nur noch in Nebenprogrammen erscheint und seine mahnenden Worte über den „Hunger, der auch Krieg ist“ nur noch durch kluge Feuielletonleser nachvollzogen werden. Entgeht so die berechtigte Frage des Nobelpreisträgers nach dem tieferen ontologischen Grund, warum über 200.000 tote Bosnier oder beinahe 1 Million tote Ruander recht schnell verdrängt wurden, während der - beklagenswerten - Opfer New Yorks beinahe täglich gedacht wirdä Ist das das Ergebnis rationaler Aufklärungä Ist dies etwa ein merkwürdiges Indiz für eine andere Art westlichen Rassismus, für eine andere Art der Wertigkeit menschlichen Opfersä

Ist es nicht auch eine Frage an die Toleranzfähigkeit der Demokratie, warum eigentlich niemals ein Muslim im öffentlichen Fernsehen Stellung nehmen darfä Ist es eine Lehrstunde der Toleranz, wenn unter dem Sammelbegriff „Islamist“ Bin Ladin und engagierte Muslime in Deutschland bewusst öffentlich gleichgesetzt werdenä

Die Debatte um den europäischen Islam hat weitere Gefahren. Kurios erscheinen die bereits vorsichtig formulierten Aufforderungen an die Muslime, man mäge doch bitte den Qur’an „relativieren“. Ähnlich kurios wäre die Forderung, die Muslime mögen doch bitte die Einheitslehre aufgeben und praktischerweise eine Zweiweltenlehre begründen. Natürlich lässt sich der Islam von seiner Einheitslehre, die Goethe faszinierte und die Goethe vor allem noch denken konnte, nicht trennen. Jedem praktizierenden Sufi ist ja gerade die präsente Göttlichkeit alltägliche Lebenserfahrung - wie soll man sich denn da bitte säkularisierenä

Die Problematik, wenn man das Göttliche nicht mehr in der Welt erkennt, wird uns Europäern ja durchaus schmerzlich bewusst. Muslime können daher leider nur begrenzt zur weiteren „Entzauberung“ der Welt beitragen - wir eignen uns auch nicht als stumme Entlastungszeugen für die ökonomische Ausbeutung des Planeten und das damit verbundene Unrecht.

Zu befürchten ist aus islamischer Sicht, dass wesentliche Elemente des Islam in Europa verwässert werden könnten. Die prinzipiell eigenständige Terminologie des Islam ist in vielen Bereichen bereits „zwangsübersetzt“ worden. Es wird „gefährlich“ islamische Terminologie in den Mund zu nehmen. So spricht kaum noch ein Muslim, oder kaum ein muslimischer Funktionär über den Zakat, eine der Säulen des Islam, der aber den einzigen wirklich islamischen Grund darstellt, sich zu organisieren. Hierher gehört auch die Degradierung des „Schaikh-al Islam“ und damit des islamischen Rechts, als eine Unterfunktion islamischer Organisationen.

Auch ein „europäischer Islam“ frustrierter und zu Recht an ihren Heimatländern zweifelnder Exil-Araber, die es als „liberal“ empfinden, wenn man nur einmal in der Woche betet, wird wohl kaum das echte Zutrauen in die Möglichkeit eines europäischen Islam erhöhen. Der Verdacht läge nahe, man wolle den Islam von außen her umschreiben und seine Bedeutungen banalisieren. Um so wichtiger ist es, dass der europäische Islam seine Substanz findet. Muslime müssen sich vor allem vergegenwärtigen, dass der Islam keine Kultur darstellt und natürlich in Deutschland - man denke nur an die Rolle der Frauen - eine andere kulturelle Ausprägung haben wird und muss wie in Pakistan. Hierzu gehört übrigens nicht unbedingt eine neue Fortschrittlichkeit, sondern eine Rückbesinnung auf die bekannte Praxis des Propheten selbst.

Dass auch dieser europäische Islam seine Grundlage im Qur’an, der Sunnah und den fünf Säulen des Islam hat und im Respekt vor dem Schöpfer, ist selbstredend - genau diese Freiheit der Religionspraxis erlaubt ja auch mit guten Gründen unser Grundgesetz. Totalitäre Gesellschaftsformen sind dem Islam - gerade auch in seiner Ausprägung in Madinah,zum Glück fremd.

Man kann aber auch in Europa von der Loslösung des Islam von den islamischen Rechtsschulen - dem Weg der Mitte - nur warnen. Ohne eine Bindung an diese traditionellen Schulen wäre einer völlig subjektiven und damit auch extremen Interpretation des Korans Tür und Tor geöffnet. Man muss nochmals betonen: nach den klassischen Rechtsschulen hätten die Hamas oder Bin Ladin eben keine Chance.

Ohne die Rechtsschulen lassen sich letztendlich auch Nationalismus und Wahabismus, aber auch kapitalistische Lebensformen, die die ganzheitliche Sinnwelt des Islam schleichend verändert haben - nicht zurückdrängen. Die Forderung der Trennung des Islam von seinen rechtlichen Grundlagen ist von gleicher Qualität wie die Forderung nach der Aufgabe des Völkerrechts. Fortschreitende Entrechtlichung und die Unterwerfung des Rechts unter die Macht ist eine Konsequenz des Nihilismus. Die Ideologisierung und Pervertierung, aber auch der Versuch der Auflösung des Islam setzt letztlich seine Entrechtlichung voraus.

Wie auch immer, weichen wir der eigentlichen Kernfrage nicht aus: wie steht der europäische Islam denn nun zur Demokratie und Schari’atä Diese Frage wird - das sei zunächst vorausgeschickt - zunehmend im Rahmen einer Verschwörungstheorie präsentiert. „Muslime planen den Gottesstaat in Europa“ ist eine vielleicht gut verkäufliche, aber kaum rational belegbare Herangehensweise. Das gute alte Europa sollte eigentlich auch noch über soviel Selbstbewußtsein und über genügend „staatliche Ordnungsmacht“ verfügen, um nicht vor Angst zu erstarren.

Bleiben wir also bei den Fakten. Die Frage, „wie der Islam zur Demokratie steht“, lässt sich aus dem Qur’an nicht belegen noch widerlegen - denn bei nüchterner Betrachtungsweise lässt der Qur’an „verschiedene politische Modelle zu“. Politische Modelle sind nach islamischen Verständnis Zeit und Geschichte, dem Schicksal unterworfen und werden daher in der Offenbarung - nachvollziehbarerweise - nicht weiter eindeutig kommentiert. Der Qur’an ist aber kein romantisches Geschichtsbuch. Ein zeitloses, absolut eindeutiges Verbot des Qur’an ist das Verbot des Wuchers. Privates Eigentum wiederum ist im Qur’an ausdrücklich und dauerhaft erlaubt. So gesehen kann ein Muslim natürlich Demokrat sein - er kann jedoch nicht den Wucher akzeptieren.

Es liegt nahe, warum gerade das Verbot des Wuchers wie überhaupt die Regeln der islamischen Ökonomie gerade für europäische Muslime bedeutungsschwer sind. In einer Zeit, die so absolut „Ökonomischen Gesetzen und dem Diktat des Konsums“ folgt, ist gerade dieser Aspekt der Glaubensausübung zutiefst relevant. Für die geistige oder spirituelle Seite eines Gemeinwesens ist die Art und Weise des Wirtschaftens natürlich extrem wichtig. Schon die erste Gemeinschaft in Madinah war entscheidend von „Moschee und Markt“, also von „Geist und Materie“ geprägt. Wie soll heute echte Spiritualität das Erwerbs- und Wirtschaftsleben ausklammern könnenä Gerade für die zum Islam konvertierten Europäer - eine durchaus wachsende Zahl - ist die soziale und ökonomische Lehre des Islam eine denkbare Alternative zu Staatskapitalismus und oligarchischen Strukturen.

Damit befindet sich der Islam im Einklang mit Aristoteles, dem Begründer der europäischen Wissenschaften, der in der Politea den Wucher als das „gemeinschaftliche Grundproblem“ definiert. Übrigens, damit das auch klar ist: der Wucher ist heute natürlich auch in der islamischen Welt verortet und damit nicht etwa eine „antisemitische These“.

Ja, der Islam strebt eine andere Art von Wirtschaften an, ein alternatives wirtschaftliches Modell, jenseits der Monopole. Genau dies ist aber nach dem Grundgesetz möglich, das sich eben nicht für ein bestimmtes ökonomisches Modell ausspricht, sondern allein den Eigentumsschutz einfordert. Daraus ergibt sich insoweit auch eine politische Position: es ist für einen Muslim, wie für viele Nicht-Muslime, allerdings nicht besonders gerecht, wenn einige hundert Familien über mehr Reichtum verfügen als ganze Kontinente. Aber diese Solidarität macht ihn nicht zum Verfassungsfeind. Warum der Muslim letztendlich also nicht aktiv am politischen Prozess, am Wettstreit der Argumente als Bürger teilnehmen sollte, bleibt mir ein Rätsel. Es kann ja auch nicht sein, dass ich - nur weil ich ein Muslim bin - nicht an der politischen Debatte teilnehmen darf.

Zur Frage nach der Schari’at - gerade in Europa eine heikle Frage - ist wiederum eine nüchterne Herangehensweise nätig. Wenn ein Muslim in Schwerin sein Gebet verrichtet, hat er bereits an der Ostsee Aspekte der Schari’at etabliert. Man kann sich also nicht -ungeachtet mancher Polemik - generell von der Schari’at, die die ganze Lebenspraxis umfasst, distanzieren. Die Schari’at ist im übrigen nicht ein loser Verbund willkürlicher und sinnloser Regeln, sondern folgt einer inneren und ganzheitlichen Logik. Es stimmt, das berühmte „Handabschlagen“ ist natürlich überall ein himmelschreiendes Unrecht, da die Grundbedingung für diese so gesehen extreme Strafe, die wucherlose und gerechte Gesellschaft heute mitnichten und nirgendwo etabliert ist. „Wucher“ wiederum hat der Prophet gleichgesetzt mit siebzig Sünden, die geringste von ihnen Sexualverkehr mit der eigenen Mutter. Das ist die eigentliche Moral des Islam.

Übrigens: wenn ein afghanisches Haus aus 3000 Meter Höhe von einer Zweizentnerbombe getroffen wird, die unschuldigen Hausbewohner bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt sind, frägt sich auch der schuldlose Afghane, „was für eine grausame Schari’at hat dies Art von Rechtsverfolgung erlaubtä“ Schon Foucault hat übrigens in dem sehr lesenswerten Buch „Verbrechen und Strafen“ die Implikationen und Verdrängungen europäischen Rechtshumanismus auf interessante Art und Weise beleuchtet.

De facto eignet sich der Muslim eben nicht zum „Islamismus“, wenn man „Ismus“ versteht als eine politische Ideologisierung der islamischen Lebenspraxis. Muslime sind so gesehen eigentlich - wenn sie denn praktizieren - einer Ideologie nur schwer zugänglich. „Wenn schon ein Ismus, dann der Sufismus“, wäre eine salomonische Lösung.

Was heißt Islamismus für Deutschland denn wirklichä Ich kann nicht verhehlen, dass ich es als radikaler empfinden würde, wie es jede islamistische Organisation je sein könnte, wenn junge Türken Goethe lesen, Weimar besuchen oder einfach mit ihren deutschen Freunden ins Theater gehen würden. Denn die deutsche Klassik, die deutsche Philosophie und Dichtung hat für „jedermann“ so manche Brisanz. Was junge Muslime, die ja in der Mehrheit Naturwissenschaften studieren, von Goethe lernen können, ist der Kern seiner wunderbaren Erkenntnistheorie: man muss eine Sache lieben, um sie zu verstehen. Das ist auch im Islam so. Die Geschichte des Balkans, Siziliens und al-Andalus zeigt, dass der Islam in Europa tief in der Geschichte und der Gegenwart verwurzelt ist. In Bosnien sind tausende Muslime gestorben, in Granada wird in diesen Tagen die neue Moschee gebaut. Europas muslimische Gemeinden sind lebendiger denn je. Muslime wollen natürlich keine territoriale Herrschaft in Europa, sondern ein integriertes und dynamisches Netzwerk der europäischen Städte und Gemeinden mitgestalten.

Quelle: Islamische Zeitung

@ Ekrem Yolcu

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