Die Einheit der Verpflichtungen


warum der Islam mehr ist als "nur" Religion - von Dr. Hadsch Asadullah Yate

"Ihr, die ihr Iman habt! Tretet in den Islam als Ganzes ein" (al-Baqara - Die Kuh, 206)

Die folgenden Ajats des Qur'an al-Karims haben die Themen und Kern der Vorträge in den letzten Monaten im Rahmen der Potsdamer Akademie gebildet.Grundsätzlich gründen sich diese Vorträge darauf, vorallem die innere Einheit des Qur¹ans zu berücksichtigen und zu akzeptieren. Wegen der auf die Ökonomie ausgerichteten Zeit, in der wir leben, gibt es daher für jede Zeit und ihre spezifische Problematik wichtige Schlüsselajats und besonders wichtige spezifische Verpflichtungen. Oft werden sie aber innerhalb des Diskurses der heutigen Muslime allgemein umgangen oder - in bestimmten Fällen - auch aktiv vermieden.

Dialog oder doch Da'wah?
Der Grund für dieses Phänomen, bestimmten Ayats aus dem "Weg" zu gehen und dem vorsichtigen und zurückhaltenden Umgang mit Ayats, die wirtschaftliche Verpflichtungen betreffen, scheint zu sein, daß bestimmte Angelegenheiten, die von Allah ta'ala (und vom Propheten, salla'llahu 'alaihi wa sallam) befohlen oder verboten wurden, als Bedrohung der heutigen Mode des ökomenischen Dialoges betrachtet werden. Im Kern versucht die geistige Verortung und Methode dieser Dialoge den Islam als eine religiöse Randerscheinung der Gesellschaft zu isolieren. Nachdem das Christentum den Einfluß auf die Gesellschaft verloren hat, sollen nun auch die anderen Religionen sich in ihre zugewiesenen geistigen Reservate zurückziehen. Der Dialog der Religionen wiederum hat seine Funktion in der Sammlung aller Welt-"Religionen" in eine rein "religiöse" Arena, um - im Falle des Islams - jeden wirklichen Versuch zu verhindern, daß solche Ajats in der Welt des Handels, der Finanzen und der sozialen Strukturen Anwendung oder Beachtung finden könnten. Denn - so die Maxime dieses Dialogs - natürlich sind echte Weltreligionen in politischen oder ökonomischen Fragen "neutral".
Grundsätzlich hat die Geschichte gezeigt, daß Muslime, Christen und Juden oft einfach und unter gegenseitigem Respekt zusammengelebt hatten. Die Religionen sind natürlich nicht in einem feindlichen Verhältnis und auch in Deutschland gibt es hier zum Glück keinerlei Probleme. Gleichwohl wäre es falsch, hieraus zu schließen die Religionen seien im Grunde auf Einheit ausgelegt. Dies zeigt gerade auch der Qur¹an. So vorallem die Ajats, in denen Allah ta'ala uns verbietet, Juden und Christen als unsere "Freunde" zu nehmen: "Ihr, die ihr Iman habt! nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu euren Freunden; sie sind Freund untereinander. Jeder von euch, der sie zum Freund nimmt, ist einer von ihnen. Allah leitet nicht die fehlerhaften Leute" (al-Ma'ida - der Tisch, 51) ist in sich selbst Grund genug, die natürlichen Begrenzungen solch eines nivellierenden Dialoges zu sehen.Es ist daher der falsche Weg, die substantiellen Unterschiede der Religionen etwa leugnen zu wollen. Es ist natürlich kein Zufall, daß diese Unterschiede der Religionen und der geistige Grund für die unmögliche Identität oder substanzloser Freundschaft der Religionen gerade auch im Recht der Ökonomie liegt. Das islamische Recht besteht zu einem großen Teil aus Aussagen zu ökonomischen Fragen. Im Gegensatz zum Christentum hat der Islam eine verbindende Rechtsordnung für die Ökonomie der Gesellschaft.

Es ist notwendig, daß die Muslime als Ganzes sich wieder diese Ajats aneignen, um wieder das Gleichgewicht zwischen dem allgemeinen Verständnis des Dins und seiner Anwendung zu finden. Sollte man seinen Din von der Mehrzahl der "offiziellen" Sprecher der verschiedenen Organisationen nehmen, die die Muslime in Europa repräsentieren, könnte man leicht auf den Gedanken kommen, daß der Islam mit den gleichen Strukturen, Staat, Demokratie und Banken, versehen werden muß, daß er durch endlose Steuern finanziert wird, daß seine alltägliche soziale Wirklichkeit identisch mit der der Christen, Juden oder Nicht-Gläubigen sei, und daß seine alltägliche Organisation auf Vorsitzenden, Präsidenten und Vorständen beruht. Der insoweit "moderne" Islam, eine Kopie des westlichen Ordnungsdenkens, lässt sich daher auch nicht in vielen Grundsatzfragen auf die klassischen Quellen gründen.
Der Islam ist in dieser "modernen" Form nur noch ein moralischer Verhaltenskodex. Der Islam ist dem Wesen aber nach anders und sein Problem auch nicht etwa die angebliche Unfähigkeit, die "Moderne" zu verstehen. Vielmehr ist der Muslim in der Lage zu erkennen, daß die westliche Gesellschaft und vorallem ihre irrationale Ökonomie nicht von Dauer sein kann. Deswegen gibt es Prinzipien im Islam, die insofern zeitlos sind.

Der ausgeglichene, mittlere Weg
Der gerade Weg meidet Extreme aller Art. So soll die Vorstellung dieser Ajats hier und im Programm der Potsdamer Muslime kein wildes und fanatisches Bild des Islams zeichnen, sondern nur ehrlich zeigen, wie die Dinge sind und sein sollten, wenn Islam in all seinen Facetten und in all seinen Aspekten eingerichtet wäre. Der Qur¹an spricht eine klare und einfache Sprache. Gerade diese Klarheit führt dann auch zu einem ehrlichen Gespräch von Muslimen und Nicht-Muslimen über die Dinge wie sie sind. Die innere und vollkommene Einheit des Qur¹ans fasziniert auch Nicht-Muslime. Gespräche können aus dieser Substanz heraus mit der ganzen Gesellschaft geführt werden. Dies heißt z.B. ein gesellschaftliches Gespräch bzw. Dialog in Deutschland über die Notwendigkeit der Einrichtung von umfassender Gerechtigkeit innerhalb des sich nun global verstehenden Kapitalismus. Zu diesen Fragen werden die Religionen bisher nicht in der Öffentlichkeit befragt und wirken daher lebensfremd. Natürlich kann der Muslim eine Welt, in der wie heute ein paar hundert Familien mehr besitzen als ganze Völker, nicht tolerieren. Genausowenig kann man heute natürlich auch das Abschlagen der Hand vertreten (ohne die Gültigkeit dieses Urteiles in Frage zu stellen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind) in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die wirklichen Diebe die Finanzmogule und die Spekulanten an der Börse sind. Vorallem muß der Muslim auch alle dem Din fremden Beispiele politischer oder ideologischer Radikalität ablehnen. Der Muslim durchschaut, daß politische Radikalität, ohne die ökonomische Ordnung des Islam zu akzeptieren, heute ein gefährlicher Irrweg ist. Der Wahabismus beispielsweise und sein "religiöser" Extremismus ist merkwürdig liberal, wenn es um Wirtschaftsfragen geht.
Natürlich kann man nicht erwarten, daß die Befehle Allahs in den folgenden Ajats sofort (anstatt langsam organisch zu wachsen) in die Praxis umgesetzt werden. Überhaupt sind diese Ajats nicht ein Parteiprogramm einer ideologischen Bewegung des Islam, sondern eben zeitlose Anweisungen an den Muslim, wie sich eine gerechte Gesellschaft zu gestalten hat. Der Islam hat insoweit natürlich Relevanz und Zuspruch weil er sich der Zerstörung der Erde durch den Kapitalismus nicht bedingungslos fügt. Der Prophet, Friede sei mit ihm, hat Moschee und Markt als eine gesellschaftliche Einheit errichtet.

Die Einheit der Verpflichtungen
Grundsätzlich hat der Muslim allen Verpflichtungen gleichzeitig nachzukommen. Al-Baqara- die Kuh, 206: "Oh, die ihr Iman habt! tretet in den Islam komplett ein." Wie Ibn Djuzaij, der Autor des berühmten Tafsir, darauf hingewiesen hat, bedeutet dies die Akzeptanz und Umsetzung der Befehle des Islam in seiner Gesamtheit. Man kann daher diese Verpflichtungen nicht etwa in praktikable und unpraktikable Verbote einteilen. Zu beachten sind alle Befehle und Verbote und auch die vergessenen Anweisungen bezüglich des Handels, Wuchers, Gold und Silber und ähnlichem. Besonders bezüglich dem Phänomen des Wuchers ist der Qur¹an von eindeutiger Klarheit und in sich die rechtliche Begrenzung der entfesselten und endlosen Kapitalerhebung.
Al-Baqara - die Kuh, 274-5: "Diejenigen, die Riba praktizieren, werden sich nicht vom Grab erheben, es sei denn als jemand, der durch die Berührung Schaitans wahnsinnig geworden ist. Dies ist so, weil sie sagen: 'Handel ist gleich Riba.' Wem immer die Warnung von seinem Herren gegeben wurde und dann [von Riba] Abstand nimmt, kann behalten, was er in der Vergangenheit erhalten hat und seine Angelegenheit liegt in Allahs Sorge. Aber alle, die dazu zurückkehren, sie werden die Gefährten des Feuers sein, worin sie endlos verbleiben werden, für immer. Allah vernichtet Riba, aber er läßt Sadaqa an Wert wachsen!" Riba - grob als Wucher übersetzt - ist grundsätzlich jeder Austausch zwischen zwei Parteien, in dem es ein Ungleichgewicht gibt. Das Nehmen von Zinsen ist nur ein Teil dieses Verbrechens (Allah ta'ala sagt an späterer Stelle in der gleichen Sura: "Ihr, die Iman habt! Habt Taqwa vor Allah und verzichtet auf bestehendes Riba, wenn ihr Muminun seid. Wenn nicht, dann seid euch bewußt, daß es Krieg durch Allah und Seinen Gesandten bedeutet").
Das Kaufen und Verkaufen, welches mit Papiergeld unternommen wird (und natürlich durch Erweiterung auch Plastikgeld, elektronisches "Geld", Aktien, Sicherheiten, Futuresbonds, Versicherungen und Börsen- bzw. Währungsspekualtion) ist auch Riba, da Papier im Islam an sich kein legales Zahlungsmittel ist (nur Golddinare und Silberdirhams und - unter bestimmten Bedingungen - Kupferstücke) und es verliert tatsächlich jede Minute, die wir es in unserer Tasche haben, an Wert. Erlaubt ist andererseits die Verwendung von Dinaren mit den Mitteln des e-commerce und Internet, um die praktischen Vorzüge moderner Technologie natürlich zu nutzen. Der politische Gegner des Islam ist daher weniger Amerika als vielmehr die globale Herrschaft des Dollar.

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, hat - daran sollten wir uns erinnern - in seiner Khutba des Abschieds die Aufmerksamkeit auf Riba gelenkt und an anderer Stelle hat er auf eine Zeit hingewiesen, in der der Staub des Wuchers alles bedecken wird. Wiederum hat er - in einem erschreckenden Vergleich - festgestellt, daß das Verbrechen des Wuchers schlimmer ist, als Ehebruch mit der eigenen Mutter an der Kaaba. Dieser Hinweis sollte genügen, um die Bedeutung von Fragestellungen richtig einzuschränken. Es fällt auf, daß dieses Hadith kaum diskutiert wird. Wer immer versucht, das Verbot des Wuchers zu verwässern, versucht - beispielsweise in der Idee " des modernen-europäischen Islam" - im Grunde, eine neue Religion zu etablieren.
Allerdings ist für uns als Muslime unser Bemühen nicht nur auf das Ende von Riba hin ausgerichtet, sondern auch auf die Einrichtung von freien, offenen Märkten, denn Allah ta'ala sagt, daß Er Riba verboten und Handel erlaubt hat. Mit anderen Worten: natürlich können kreative, technologisch durchdachte Wege im Wirtschaftsbereich gegangen werden, solange die grundsätzlichen Verbote des Qur¹ans beachtet werden. Der Islam erlaubt dem Menschen das Recht auf absolut freien Handel.

Der Muslim und die Ökonomie
Das islamische Menschenbild schließt daher die ökonomische Dimension des Menschen ausdrücklich mit ein. Insoweit ist der Islam mehr als nur "eine Religion" und dem christlichen Verständnis von Religion, als eingeschränkter Lebensbereich, im Grunde fern.
Al-Baqara - die Kuh, 177: "Es ist keine Hingabe, wenn ihr eure Gesichter nach Osten oder Westen wendet. Eher haben diejenigen wirkliche Hingabe, die Iman in Allah und den Jüngsten Tag haben, in die Engel, das Buch und die Propheten, und die - trotz ihrer Liebe dafür - ihren Reichtum an ihre Verwandten geben, an die Waisen und an die sehr Armen, und an die Reisenden und Bettler und Sklaven freilassen, und die das Gebet einrichten und die Zakat bezahlen; diejenigen, die ihre Verträge achten, wenn sie sie abschließen, und die standhaft sind in Armut, Krankheit und in der Schlacht. Dies sind die Leute, die wahr sind. Dies sind die Leute, die Taqwa haben."
Das Ajat beendet die ausufernde religiöse und passive Sichtweise des "Frommen".Der Muslim wird in allen Lebensbereichen gleichberechtigt nach den religiösen Grundlagen seines Handelns befragt:
At-Tauba - die Reue, 24: "Sprecht: Wenn eure Väter oder eure Söhne oder eure Brüder oder eure Frauen oder euer Stamm, oder jeglicher Reichtum, den ihr angeeignet habt, oder das Geschäft, um dessen Verlust ihr fürchtet, oder das Haus, welches euch gefällt, euch näher sind als Allah und Sein Gesandter und Djihad auf Seinem Weg, dann wartet, bis Allah Seinen Befehl macht. Allah leitet kein Volk, welches verdorben ist."
Das heißt, diejenigen, die dies nicht tun, sind Fasiqun - Verderber. Al-Baqara - die Kuh, 206: "Ihr, die ihr Iman habt! Tretet in den Islam vollkommen ein. Folgt nicht den Schritten Schaitans. Er ist ein wirklicher Feind für euch."
Ibn Djuzaij kommentiert in seinem Tafsir auf diese Aussage, daß Allah ta'ala die Muslime dazu aufruft, fest in deren Din zu sein und alle Aspekte der Befehle und Verbote der Schari'a umzusetzen. In anderen Worten, es ist eine deutliche Aufforderung, über das christlich-religiöse Verständnis dieses Dins (d.h. fünf Gebete zu Hause und das Djumu'ahgebet am Freitag als Imitation des sonntäglichen Gottesdienstes der Christen) hinauszugehen zu einem Islam, in dem alle sozialen Aspekte (die Gemeinschaft der Männer, die Gemeinschaft der Frauen, keine Kleinfamilien, Schutz von Frauen und Kindern), wirtschaftlichen Aspekte (freie Märkte, Mudaraba- und Qirad-Verträge, Auqaf, Abschaffung aller Steuern außer der Zakat und de Djizijah) und politischen Aspekte des Dins (Amirate, Khalifat) des Islams wiederbelebt werden. Es versteht sich von selbst, daß die Muslime diese Verpflichtungen unter Respekt der gegebenen Rechtsordnung, in der sie leben, vollziehen. Natürlich kann aber nicht von Muslimen verlangt werden, daß sie Ihre Offenbarung umdeuten.

Das Fundament des Zakats
Nicht genug betont werden kann die fundamentale und weitreichende Bedeutung des Zakat. At-Tauba - die Reue, 60: "Zakat ist für: die Armen, die Mittellosen, diejenigen, die sie einsammeln, zur Gewinnung der Herzen der Leute, Freilassung von Sklaven, die Verschuldeten, die Ausgabe auf dem Wege Allahs und Reisende. Es ist eine rechtliche Verpflichtung von Allah ...".
Es sollte im Zusammenhang mit diesem Ajat angemerkt werden, daß 1) Zakat durch den Befehl des 'Amirs eingesammtelt wird, 2) Zakat nicht zum Bau von Moscheen verwendet werden kann.

Das Verhältnis zur Macht
Das kommende Ajat dient uns aber zur Erinnerung, daß alle oben erwähnten Ajats nur dann umgesetzt werden, wenn das Verständnis vorhanden ist, daß Allah der einzig wirklich Handelnde ist, wie Er selbst im Qur'an deutlich macht - as-Saffat, die Leute der Rangstufen, 96: "Er hat euch und eure Taten geschaffen" - und daß Erfolg in dem Verständnis liegt, daß alle Macht und alle Kraft in Seinen Händen ist. At-Talaq - Scheidung, 3: "Wer immer Taqwa vorAllah hat - Er wird ihm einen Weg hinaus weisen und ihn versorgen, von wo aus er es nicht erwartet. Wer immer sein Vertrauen in Allah legt - Er wird genug für ihn sein. Allah erreicht all Seine Ziele."
Natürlich zeichnet sich die Korrekt heit der Aqida des Muslim dadurch aus, daß er weiß und bezeugt,daß alle Macht bei Allah liegt und deswegen der Muslim in jeder Situation weder passiv, noch pessimistisch sein darf und kann. Die rasend schnelle Globalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse und gierige Vernutzung der Ressourcen zeigt schon an, daß das kapitalistische System nicht "ewig" sein kann. Warum sollten Muslime nicht einen spannenden und authentischen Beitrag leisten für eine notwendige Neuorientierung der Gesellschaften Europas? An diesem echten Beitrag sind immer mehr Europäer interessiert.


Quelle: islamische Zeitung , 38. Ausgabe

@ Ekrem Yolcu

backward.gif (3615 Byte)