Friedenserziehung
in der Korandidaktik
Dr.
phil. Milena Azize Rampoldi
Im
Bereich der Friedenserziehung finde ich es im Koranunterricht sehr wichtig, die
individuellen und sozialen Fähigkeiten, die nach Wulf als Grundlage des friedlichen
Handelns als dynamischen Begriff gelten, mit dem Begriff des Friedens im Koran zu
integrieren und diese Fähigkeiten positiv in den Kindern zu fördern. Die Kompetenzen,
die in die Friedenserziehung einfließen können, sind im Wesentlichen folgende:
*Das
Erkennen des eigenen Selbst:
Hiermit
meint man grundsätzlich die Sensibilität im Umgang mit und in der Wahrnehmung
individueller Gefühle und Einstellungen auch in Bezug auf andere und die Analyse und
Darstellung innerer psychischer Bedingungen. Im Koranunterricht steht natürlich das
Sprechen über sich selbst als muslimisches Kind im Vordergrund, um Konflikte zu
bewältigen und Friedenskompetenz zu üben. Es geht somit um die Wahrnehmung der eigenen
interkulturellen und interreligiösen Erfahrung und über diese hinaus auch um das
Verständnis der anderen Kinder im Korankurs und außerhalb, um Konflikten nicht aus dem
Weg zu gehen, sondern diese aktiv aufzuarbeiten. Denn nur durch die eigene, starke
Identitätsbildung werden das Verständnis des und der Zugang zum Fremden auf eine
friedliche Art und Weise möglich.
*Erkennen
der individuellen und sozialen Abhängigkeiten:
Unter
diesem Begriff versteht man die Sensibilität in der Wahrnehmung der strukturellen,
gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht als Konfliktpotenzial, sondern
als Quelle des inneren Gleichgewichts erlebt werden sollen. Es geht insgesamt um das
Bewusstsein der eigenen Lebenssituation als Muslim(a) und um die Erörterung des sozialen
Beziehungsgefüges innerhalb der Ummah. Diese Wahrnehmung kann schon ab dem
Grundschulalter im Koranunterricht gefördert werden. Der Koranlehrer bzw. die
Koranlehrerin soll den Kindern klarmachen, dass eine Gemeinde und Gesellschaft auf
Beziehungen und auch Abhängigkeiten aufbaut, die keineswegs als negativ gelten. In diesem
Netzwerk von Verbindungen und manchmal auch Konflikten soll das Kind im Korankurs
anfangen, seinen eigenen Platz zu finden, indem es sich im Verhältnis zur eigenen Familie
und Kultur, den anderen muslimischen Kulturen in der Koranschule und der deutschen Kultur
in der Schule und Gesellschaft außerhalb der Koranschule definieren lernt. Denn
Selbstdefinition ist ein Garant des Friedens.
*Rollendistanz:
Die
Fähigkeit, sich von einmal eingenommenen sozialen Rollen kritisch zu distanzieren,
beziehungsweise in der eigenen Rolle eine individuelle Distanz zum Ausdruck zu bringen
oder deren normative Anforderung kritisch in Frage zu stellen und gegebenenfalls zu
ändern, ist auch wesentlich für die Förderung des friedlichen Handelns in Gemeinschaft
und Gesellschaft.
*Empathie:
Die
Fähigkeit, sich in die Erwartungen des sozialen Gegenübers einzufühlen und auf diese
einzugehen kann im Korankurs sehr gut in der Paar- und Gruppenarbeit der Kinder erlernt
und verstärkt werden. Diese Sozialformen werden oft eingesetzt, um vom Frontalunterricht
Abstand zu nehmen. Es geht vorwiegend um Üben von Toleranz, Verständnisfähigkeit und
Geduld in der Arbeit mit anderen Schülern und Schülerinnen und darum, moralische Werte
wie Bescheidenheit zu erlernen und im Labor des Korankurses zu üben. All diese
Kompetenzen fließen dann in die übergeordnete Friedenskompetenz ein.
*Ambiguitätstoleranz:
Die
Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche
Erwartungen anderer wahrzunehmen und zu ertragen, auch wenn absehbar ist, dass die eigenen
Bedürfnisse in nur geringem Maße befriedigt werden können, um einen Zustand des
allgemeinen Friedens zu erzielen. Dies erfolgt vor allem in interkulturellen
Konfliktsituationen, die schon in der Klasse vorkommen könnten. Wiederum möchte ich
betonen, wie wichtig der Korankurs als Labor sozialen Handels im Sinne des Friedens ist.
Das Kind soll sich dessen bewusst sein, dass es nicht immer die eigenen Ideen und
Bedürfnisse durchsetzen kann und darf.
*Kommunikative
Kompetenz:
Die
Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse und Interessen gegenüber anderen ange-messen
darstellen zu können (Identitätsdarstellung), also die Fähigkeit, weder völlig in den
Erwartungen anderer aufzugehen, noch die Erwartungen anderer vollkommen zu ignorieren
(Kommunikationsabbruch), sondern in einem Prozess der Verständigung ein individuelles
Gleichgewicht zwischen unterschiedlichen Standpunkte herzustellen, ist ausschlaggebend
für den friedlichen Dialog mit den anderen Kulturen und Religionen. Kommunikative
Kompetenz schließt verschiedene Standpunkte
ein, die im Rahmen des Dialogs artikuliert werden und nicht zu einer Distanzierung oder zu
einem Abbruch einer sozialen Beziehung führen. Dieser Polylog ist das Ziel des steilen
Weges, den auch die Koranschule mit den Kindern beschreiten muss. Aus diesen
Voraussetzungen wird ersichtlich, wie wichtig auch die fächerübergreifende und
interreligiöse Friedenserziehung sind.
Nicht
nur im Islam, sondern auch im Judentum und Christentum und in den anderen Weltreligionen
gibt es eine lange Geschichte der Bemühungen um den Frieden. Es handelt sich dabei meist
um eine stumme Geschichte, im Gegensatz zur lauten Geschichtsschreibung der Kriege und
Invasionen.
Wie
der norwegische Friedensforscher Johan Galtung zum Ausdruck bringt, ist ein negativer
Friedensbegriff im Sinne einer Abwesenheit von Krieg und direkter Gewalt nicht
ausreichend, um eine Kultur des Friedens hervorzubringen. Es bedarf hier meiner Meinung
nach einer synergetischen Bemühung aller Kulturen und Religionen zur Umsetzung eines
positiven Friedensbegriffes, wie nach der Anschauung des Philosophen Spinoza, der hierzu
schreibt:
Friede
ist nicht Abwesenheit von Krieg.
Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit.
Diese
moralische Dimension des Friedens kommt auch im Koran sehr deutlich zum Ausdruck. Diese
Anschauung soll dem Koranlehrer/der Koranlehrerin als Ausgangspunkt für die didaktischen
Bemühungen in diesem Bereich dienen. Frieden ist nicht ein starres Konzept, sondern die
moralische Fähigkeit der Friedfertigkeit, d.h. der Kompetenz, Frieden durch das eigene
Handeln hervorzubringen, indem man sich als Geschöpfe Allahs (swt) sieht und in diesem
Sinne handelt. Die Transzendenz gilt im Islam und auch in den anderen monotheistischen
Religionen als Fundament des Friedensbegriffs.
Eine
Friedenserziehung, die sich im Rahmen des Koranunterrichts auf reine Wissensvermittlung
beschränkt, reicht nicht aus. Man soll sich vielmehr intensiv mit den Ursachen
beschäftigen, die den Menschen dazu führen, sich gegen den Frieden zu entscheiden und
gegen den Frieden zu handeln und Frieden als Handeln lehren.
Die
Kinder sind gerade deshalb die besten Adressaten einer dynamischen Friedenserziehung in
unserem Zeitalter voller Kriege und Konflikte, weil sie kreativ sind. Denn, wie Wulf so
schön sagt, ist es ohne kreatives Denken nur schwer möglich, Strategien und Lösungen
für den Aufbau eines dauerhaften Friedens zu entwickeln.
Diese
Kreativität der SchülerInnen kann der Koranlehrer/die Koranlehrerin positiv einsetzen
und fördern, um die Kernziele der Friedenserziehung zu erreichen: die Vermittlung von
Friedenskompetenz als Sachkompetenz, die Hinführung zur individuellen Friedensfähigkeit,
die eine starke persönliche Identität im Islam voraussetzt, und die Befähigung zum
Handeln im Namen des kreativen und gestalteten Friedens in Schule
und Gesellschaft.
Friedfertigkeit
und Friedenskompetenz kann man sehr wohl lehren und lernen. Eng mit ihnen verbunden ist
die interkulturelle Kompetenz, deren Entwicklung als Kern der Friedenserziehung angesehen
wird, da man durch kommunikative Strategien der Konfliktlösung die Gewalt vorbeugen kann.
Friedenserziehung
ist immer wertgebunden und kann daher nicht wertneutral außerhalb der eigenen
Weltanschauung praktiziert werden. Dies ist von wesentlichem Belang, wenn es um die
Friedenserziehung innerhalb des Islam geht. Somit werden die muslimischen Kinder ihr
kreatives Potential und ihre Konfliktbereitschaft im islamischen Kontext entwickeln.
Wiederum geht es schlussendlich um eine interreligiöse Umsetzung der Friedenserziehung
durch die Korandidaktik, einerseits mit der Hervorhebung der besonderen islamischen
Grundsätze der Friedenserziehung und andererseits auch der Erörterung der
Gemeinsamkeiten unter den Weltreligionen, wenn es um Friedenserziehung und das Ideal der
seelischen sozialen Friedfertigkeit geht.
@ Ekrem Yolcu

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